ORLANDO FURIOSO – Paris, Théâtre des Champs-Élysées

von Antonio Vivaldi (1678.1741),  Dramma per musica in drei Akten,  Libretto von Grazio Braccioli nach Ariosts Orlando Furioso. UA: 15. November 1727 im Teatro Sant’Angelo, Venedig

Regie: Pierre Audi, Dramaturgie: Willem Bruls Bühnenbilder und Kostüme: Patrick Kinmonth, Licht: Peter van Praet

Dirigent: Jean-Christophe Spinosi, Orchester: Ensemble Matheus, Chor: Chœur du Théâtre des Champs Elysées, Choreinstudierung : Gildas Pungier

Solisten: Marie-Nicole Lemieux (Orlando), Jennifer Larmore (Alcina), Verónica Cangemi (Angelica), Philippe Jaroussky (Ruggiero), Christian Senn  (Astolfo), Kristina Hammarström (Bradamante), Romina Basso (Medoro)

Besuchte Aufführung : 12. März 2011 (Premiere)

Kurzinhalt

Orlando liebt Angelica, aber Angelica liebt Medoro. Doch Alcina überzeugt Orlando, daß Medoro nur Angelicas Bruder ist. Sie gibt Ruggiero einen Liebestrank, und gewinnt ihn dadurch für sich. Bradamante, Ruggieros Gemahlin, erscheint verkleidet. Alcina verhöhnt Astolfo. Als Ruggiero wieder zu sich kommt, stößt Bradamante ihn erst von sich, versöhnt sich aber dann doch wieder mit ihm. Um den immer stürmischer werbenden Orlando loszuwerden, beauftragt Angelica ihn, den Jungbrunnen zu suchen. Er findet ihn auf einem verwunschenen Hügel, aus dessen Grotte er sich erst durch ein Erdbeben befreien kann. Zurückgekehrt sieht er, daß Medoro und Angelica geheiratet haben und verwüstet alles rundherum. Astolfo, Ruggiero und Bradamante schwören, Alcina zu vernichten. Doch schließlich ist es Orlando, der in einem Wahnsinnsanfall das Ungeheuer, das Alcinas Zauberstatue bewacht, tötet und die Statue zerstört, wodurch Alcina ihre Zaubermacht verliert und fliehen muß. Als Orlando, genesen aus einem tiefen Schlaf, erwacht, vergibt er Medoro und Angelica.

Aufführung

Pierre Audi schafft für dieses Dramma per musica mit schwarzweißen Barockkulissen eine durchwegs düstere Atmosphäre. Auf der Bühne Louis XV Stühle und ein Tisch, gelegentlich ein weißer Murano-Kronleuchter und Gestalten in schwarzen Barock-Gewändern, oft schwarz maskiert, die in stetiger Bewegung sind. Claireobscur, spärliche Beleuchtung, bisweilen die Sänger nur als Silhouetten gegen einen blauen oder hellbraunen Hintergrund. Sonst keine Farben. Als szenischer Höhepunkt, der dritte Akt: Ein Piranesi-inspirierter, ganz leerer Gefängnisraum mit hohen Ziegelwänden, in dem die sechs Gestalten in einem abgeschirmten Raum um den umnachteten Orlando herumirren und in einer raschen Abfolge von Ariosi, Lamenti oder Cavatinen wie in Gruppentherapie ihr Seelenleid preisgeben. Nur hin und wieder werden sie aufgerüttelt und hineingerissen wie Fratzen aus Goyas Caprichos in den Wahnsinnstaumel des  in Lumpen gehüllten, barfüßigen Helden.

Sänger und Orchester

Trotz angekündigter Indisposition stellt Marie-Nicole Lemieux mit kräftiger, aber beweglicher Altstimme einen urwüchsigen Orlando auf die Bühne, deren schauspielerische wie stimmliche Leistung in den Wahnsinnszenen im dritten Akt gipfelt. Dabei ergänzt Vivaldi in der Raserei seines Helden die üblichen Ausdruckformen der Oper (Rezitativ und Arie) durch ein wildes Recitativo accompagnato (von Instrumenten begleitetes Rezitativ, eine Technik, die Händel einige Jahre später in seinem eigenen Orlando und in Alcina übernimmt). Jennifer Larmore durchläuft von der arrogant-hoheitsvoll-verführerischen, manipulierenden Zauberin bis zur entmachteten Verstoßenen meisterhaft alle Register ihrer Rolle, obwohl ihr tiefer voller Mezzosopran sich eigentlich erst im sorgenvollen Klagegesang Cosi da questi dei (11. Szene, II .Akt) voll entfaltet. Verónica Cangemi singt und spielt die komplexe Rolle der Angelica und ist mit ihrer schönen klaren Sopranstimme besonders bewegend im Lamento: Poveri affetti miei (5. Szene, III. Akt). Als Philippe Jaroussky mit hoher glockenklarer Countertenorstimme, manchmal in nur noch gehauchtem Pianissimi, im Duett mit der Solotraversflöte im Orchester, die Liebestrunkarie Sol da te, mio dolce amore (11. Szene 1. Akt) anstimmt, hält das ganze Theater den Atem an, als ob ein Wunder geschehe. Kristine Hammerström erfreut (wie schon einige Monate zuvor im selben Theater in Alcina) wieder als Bradamante. Romina Basso gibt einen eleganten Medoro. Und Christian Senns (Astolfo) warmer lyrischer Bariton fügt sich als einzige tiefe Stimme harmonisch in das choreographisch und musikalisch aufeinander eingespielte Ensemble. Die klare Diktion der Sänger und Sängerinnen in den langen, oft komplizierten Seccorezitativen ist erwähnenswert.

Jean-Christophe Spinosi führt mit  verhaltenem Schwung das Ensemble Matheus und die Sänger durch alle Feinheiten von Vivaldis Musik. Gerne hätte man allerdings die Bläser stärker herausgehört.

Fazit

Vivaldis Orlando furioso gehört zu den späten Opern des Komponisten und ist, trotz der verwickelten Handlung, eine seiner bekanntesten geblieben.

Jean-Christophe Spinosi hatte die Originalversion des Werkes schon 2003 aus den Manuskripten des Turiner Vivaldi-Archivs zusammengestellt und im Théâtre des Champs-Elysées zur Aufführung gebracht. Ohne die reiche Vielfalt der Partitur verlorengehen zu lassen versucht er diesmal, die Musik als Spiegel der menschlichen Psyche besonders hervorzuheben. Pierre Audi und seine Kollegen unterstützen diese Absicht, indem sie dem Werk eine bühnenwirksam düstere Dimension gegeben, die wohl mehr die Leiden, als die Freuden der verschlungenen Liebesverhältnisse unterstreichen soll. Ein eindruckvoller, sehr gelungener Premierenabend.

Alexander Jordis-Lohausen

Bild: Alvaro Yanès

Das Bild zeigt: Christian Senn  (Astolfo)

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