18.-30. August 2011 (Besuchte Veranstaltungen: 18. 19. 20. August)
Die Auvergne, südwestlich der Handelsstadt Lyon, ist übersät mit wundervollen romanischen Kirchen mit breiter wuchtiger Front gegen Westen und von einem sechs- oder achteckigen Vierungsturm gekrönt. Die meisten dieser romanischen Kirchen haben daher ein trutziges, fast wehrhaftes Äußere.
Solch wuchtiges Aussehen zeigt auch die Benediktiner-Abtei Saint-Robert in La Chaise Dieu. Dieser Stuhl Gottes ist dem Himmel sehr nah, liegt er doch auf über tausend Meter in der weitläufigen Landschaft der Auvergne, dort, wo die Loire die ersten Wiesen und Felder auf ihrem langen Weg zum Atlantischen Ozean durchfließt.
Robert de Turlande hatte die einflußreiche Abtei um das Jahr 1043 gegründet. Sie besteht bis heute. Einige Benediktinerpatres zeigen den Besuchern die romanische Kirche mit dem mächtigen Gewölbe und der Orgel aus dem 17. Jahrhundert mit ihrem überreich geschnitzten Prospekt aus dunkelbraunem Holz. Die Freundlichkeit der Mönche ist ansteckend, und man würde gern mehr mit ihnen ins Gespräch kommen.
Für 12 Tage im August überlassen die Patres nun schon seit 45 Jahren das ehrwürdige Gotteshaus der Musik. Das ausgesuchte Programm enthält nicht nur sakrale Werke, sondern widmet sich in diesem Jahr auch dem Gedenken des zweihundertsten Geburtstags des Wahlungarn Franz Liszt. Es war der weltbekannte Pianist Georges Cziffra, auch ein Ungar, der dieses romanische Kleinod 1966 wachküßte. Seine hier gegebenen Klavierkonzerte waren so erfolgreich, daß er damit ein Musikfestival gründen konnte. Er spendete in Laufe der Jahre beträchtliche Geldsummen zur Unterhaltung des Festivals, und ihm ist es zu verdanken, daß die wertvolle Orgel restauriert und wieder spielbar wurde. So beeindruckt diese historische Orgel mit Musik der berühmten französischen Barockmeister wie Couperin, Grigny oder Clérambault zu Beginn jedes Konzerts fünf Minuten lang die Besucher aus aller Welt und erinnert sie daran, von wo eigentlich die große Musik Europas ihren Ursprung genommen hat.
Mit einer Komposition des aus Estland stammenden Arvo Pärt (1935), begann das erste Konzert mit Silhouette, einer Hommage an Gustave Eiffel, uraufgeführt am 4. November 2010 im Salle Pleyel in Paris. Die Kontrabässe begannen mit ihren tiefsten Tönen (pizzicato). Nach und kamen in einem großen Crescendo alle Streicher hinzu, unterstützt durch die große Pauke und anderes Schlagwerk. Der durchweg gehaltene Dreiertakt gab den Anstrich eines langsamen Walzers, und man konnte sich dabei die Pariser Bevölkerung vorstellen, wie sie 1889 bei der Vollendung des riesigen Stahlturms, der später zum wohl bekanntesten Wahrzeichen der französischen Hauptstadt wurde, vor Freude getanzt hat, alles in großer Harmonie, wie der Höreindruck dieses Stücks bestätigte. Jedenfalls könnte man ein derartiges Programm dahinter vermuten, doch Genaues weiß man ja nie.
Derart eingestimmt erwartete man mit Spannung Claire- Marie Le Guay zum Liszt‘sche Klavierkonzert Es-Dur, uraufgeführt 1855 in Weimar unter Berlioz‘ Stabführung mit Liszt am Klavier. Die Gewinnerin des ARD-Wettbewerbs 1995 in München bewies eine unerhörte Fingergeläufigkeit und enorme Kraft bei diesem ungemein schwierigen Werk. Der Klavierton des Flügels, der zusammen mit Chor und Orchester auf der hohen Bühne plaziert war, kam wohl nicht in der gespielten Stärke an unsere Ohren. Hinzu kam, daß die Blechbläser die virtuosen Läufe des öfteren überdeckten. Liszt hat einen ungemein kraftvollen Klaviersatz geschrieben mit vollgriffigen Akkorden, die die blonde Pianistin auch kunstgerecht darbot, jedoch wohl nicht mit der herkulischen Kraft, die Liszt selbst zur Verfügung stand. Die bemerkenswert intelligente Komposition Prokofievs, die Symphonie Classique, ein in vielen Kur- und Wunschkonzerten drangsaliertes Werk, spielte das Orchester unter Gérard Korsten mit überwältigender Energie und Präzision, dem stehende Ovationen zwangsläufig folgten.
Mit außergewöhnlicher Dynamik gestaltete Emmanuel Krevin und das Orchester Chambre philharmonique die Ouvertüre zur wenig bekannten Oper Béatrice et Bénédict von Hector Berlioz den Anfang des zweiten Konzertabends. Außergewöhnlich waren die Abstufungen: vom feinsten Pianissimo bis zum berstenden Forte oder die fast hingehauchten, flirrenden Passagen der Violinen. Die hier geweckten Erwartungen wurden noch übertroffen von der großen Zurückhaltung bei den darauffolgenden Gedichten von Berlioz‘ Freund Théophile Gautier. Karine Deshayes gab mit ihrem lyrischen Sopran den langausschwingenden Melodien der Nuits d’été – Sommernächte ein weltentrücktes Leuchten. Das An- und Abschwellen ihrer großen Stimme, unterstützt mit verschwenderisch viel Atem, versetzte den Hörer in einen einzigartigen Schwebezustand, den man ungern verlassen wollte. Diese bis ins kleinste ausgefeilte Liedkomposition (1830) von Berlioz war stilbildend für viele spätere französische Komponisten. Riesiger Applaus eines sachverständigen Publikums!
Daß das in der Liedbegleitung wunderbar zurückhaltende Orchester auch brutal zuschlagen konnte, bewies es in den beiden symphonischen Dichtungen Liszts (Mazeppa und Les Préludes). Hier konnten besonders die Bläser mit Genauigkeit und Dynamik glänzen.
Der dritte Konzertabend stand ganz im Zeichen religiöser Musik. Die außergewöhnliche Komposition Missa sopra Ecco si beato giorno von Alessandro Striggios für vierzigstimmigen (!) Chor boten Chor und Instrumentalisten des Concert spirituel unter Hervé Niquet in großer Geschlossenheit dar. Zu Beginn feierlicher Einzug aller durch den Mittelgang der Kirche. Über eine Stunde faszinierte der perfekt vorgetragene ehrwürdige Gesang des 16. Jahrhunderts, ohne daß die Spannung nachließ. Lang anhaltender Beifall eines tiefbeeindruckten Publikums, das, soweit ich das von meinem Sitz im Gestühl der Mönche im Chor ausmachen konnte, den dynamisch äußerst unterschiedlich gestalteten Gesängen mit größter Aufmerksamkeit gefolgt war.
Wegen der Ruhe, den Abtei und Ort ausstrahlten (die französischen Festivals beschränken sich zumeist auf einen Ort gegensätzlich zu uns, wo ganze Bundesländer davon überzogen werden) und des hohen musikalische Niveaus der Darbietungen, erhielten wohl viele Besucher einen unvergeßlichen Eindruck. In Frankreich schätzt man dieses bei uns unbekannte Festival, denn man übertrug alle Konzerte live auf France Musique.
Dr. Olaf Zenner
Bilder: Privat
Das Bild zeigt: Die Abtei Saint-Robert, Klavierspielerin Claire- Marie Le Guay