von Giacomo Meyerbeer, in der Bearbeitung von Françoise Joseph Fétis, Oper in fünf Akten; Text: Eugène Scribe und Charlotte Birch-Pfeiffer
Regie: Andreas Baesler, Bühnenbild: Andreas Wilkens, Kostüme: Susanne Hubrich, Dramaturgie: Wiebke Hetmanek
Dirigent: Samuel Bächli, Neue Philharmonie Westfalen, Choreinstudierung: Christian Jeub
Solisten: Joachim Gabriel Maaß (Don Pédro), Nicolai Karnolsky (Don Diego), Leah Gordon (Inès), Christopher Lincoln (Vasco de Gama), Daniel Wagner (Don Alvar), Vladislav Solodyagin (Großinquisitor), Jee-Hyun Kim (Nélusko), Hrachuhí Bassénz (Sélika), Melih Tepretmez (Oberpriester des Brahma), Nadine Trefzer (Anna), Felix Hernando Riaño (Matrose), Beyong-Il Yun (Priester)
Besuchte Vorstellung: 20. April 2008 (Premiere)
Werkentstehung
Um die Brüche und Ungereimtheiten der Handlung dieser Oper verstehen zu können, muß man ihre lange und verwickelte Entstehungsgeschichte kennen. Sie dauerte annähernd dreißig Jahre und fand erst mit dem überraschenden Tod des Komponisten (1864) ein zwangsläufiges Ende, aber keinen wirklichen Abschluß. Meyerbeer hatte es sich nämlich zur Gewohnheit gemacht, seinen Opern erst aufgrund der Probenerfahrungen ihre definitive Gestalt zu geben und auch in diesem späten Stadion noch bedeutende dramaturgische und musikalische Eingriffe in die Werkstruktur vorzunehmen. Man weiß, daß er auch diesmal wieder zahlreiche Änderungspläne verfolgte, doch blieb es ihm verwehrt sie auszuführen. Das Werk, so wie wir es heute kennen, ist eine Bearbeitung der nachgelassenen Materialien für die Pariser Uraufführung (28. April 1865) durch den belgischen Musikgelehrten Fétis, der zwar im Ganzen pietätvoll vorging, aber gelegentlich doch dem Willen des Komponisten zuwider handelte. So reaktivierte er den ursprünglichen Werktitel L’Africaine, den Meyerbeer inzwischen durch Vasco de Gama ersetzt wissen wollte. Mit der Einführung des portugiesischen Seehelden und Entdeckers der Schiffsroute nach Indien (1498) bereicherte Meyerbeer die ursprünglich rein private Handlung um die Kolonialismus-Thematik, wodurch das Werk zu einer „historischen Oper“ wurde. An die Stelle der afrikanischen (Gunima) trat nun die indische Königin (Sélika), deren zeremonielle Vereinigung mit dem von ihr geliebten Vasco nach den Riten des Brahma-Kultes erfolgte. Das Wiederaufgreifen des inzwischen fallengelassenen Werktitels führte zu dem wenig überzeugenden Kompromiß, die letzten beiden Akte, die ursprünglich im Innern Afrikas, sodann in Indien spielen sollten, auf eine „Insel an der Ostküste Afrikas“ zu verlegen, wo „der Brahmakult gepflegt wird“.
Kurzinhalt
Das Bild des europäischen Kolonialismus, so wie es in dieser Oper gezeigt wird, ist unzweifelhaft ein kritisches, wenngleich textlich wie musikalisch jegliche Schwarz-Weiß-Malerei der Parteien vermieden ist. Eine Überwindung der Gegensätze zwischen den Kulturen, so die Aussage des Stücks, ist weder auf politischer noch auf privater Ebene möglich. Hier wie dort mündet die Entdeckung des Fremden in seine Unterwerfung, schafft sie auf beiden Seiten Sieger und Besiegte.
Dagegen steht allein die ebenso leidenschaftliche wie selbstlose Liebe der Orientalin zum Europäer: Sélikas zu Vasco, aber sie findet keine Erwiderung; Vasco verläßt Sélika und kehrt zurück zu seiner portugiesischen Geliebten Inès. Sélika aber sucht den Tod im giftigen Blütenduft des Manzanillobaumes. Der „Liebestod“ einer Frau als Abschluß einer „historischen Oper“ faßt die Werkidee – Einspruch gegen die europäische und männerbestimmte Geschichte im Namen einer die Völker und die Geschlechter versöhnenden Menschlichkeit – in ein poetisches Bild.
Aufführung
Das Regieteam und der Dirigent haben sich, dramaturgisch glänzend beraten, mit der vertrackten Quellenlage gründlich beschäftigt und eine Fassung erarbeitet, die auf Fétis zurückgeht, ohne sich sklavisch an seine Vorschläge zu binden. Natürlich wurde auch in Gelsenkirchen gekürzt, jedoch weit weniger stark als in anderen Aufführungen während der letzten Jahrzehnte (etwa den auch audiovisuell dokumentierten mit Plácido Domingo und Shirley Verrett bzw. Montserrat Caballé).
Für das Bühnenbild hatte Andreas Wilkens auf jeglichen szenischen Aufwand verzichtet und statt dessen einen beziehungsvollen Einheitsraum in Gestalt eines Schiffsbauches entworfen, der durch wenige Versatzstücke den verschiedenen Schauplätzen angepaßt wurde und in den letzten beiden Akten durch sich erweiternde Öffnungen den Blick auf exotische Landschaften freigab. Ganz und gar nicht dem Stilisierungsprinzip unterworfen waren die prunkvollen Kostüme (Susanne Hubrich): für die Portugiesen nach der Mode des 19. Jahrhunderts, in das man die Handlung verlegt hatte, für die „Inder“ nach den ästhetischen Vorgaben eines visionären Phantasie-Orients. Die Regie Andreas Baeslers verdichtete die Idee des clash of civilizations in eindrückliche szenische Bilder, die ihre Suggestivkraft der sorgfältigen Personenführung verdankten, etwa die Sitzung des königlichen Rates (mit ihrer spröden politischen Thematik, eine Herausforderung für jede Opernregie) im ersten Akt oder die Schiffskatastrophe mit dem Seesturm und der Niedermetzelung der Besatzung durch die Eingeborenen im dritten Akt. Meyerbeers anspruchsvoller Partitur mit ihren dramatischen und musikalischen Komplexitäten war Samuel Bächli ein kompetenter Sachwalter.
Sänger
Die Hauptpartien in der Africaine stellen nicht so hohe gesangstechnische Anforderungen wie in den frühen Opern des Komponisten, dennoch ist ihre Besetzung heikel, verlangen sie doch vom Interpreten ein Höchstmaß an Kraft und Geschmeidigkeit verbunden mit deklamatorischer Finesse. In jeder Hinsicht perfekt verwirklicht erschien dieses Gesangsideal in der unterschiedlichen Ausformung der beiden großen Sopranpartien: Verlieh Leah Gordon den eleganten vokalen Lineaturen der Inès lyrische Intensität, so Hrachuhí Bassénz den leidenschaftlichen Akzenten der Sélika dramatische Durchschlagskraft. Weniger überzeugend, gleichwohl rollendeckend, gelangen die Interpretationen der Männerpartien: Christopher Lincoln bot einen etwas zu verhaltenen Vasco; Jee-Hyun Kim einen anrührenden Nélusko; Joachim Gabriel Maaß (Don Pédro), Nicolai Karnolsky (Don Diego), Vladislav Solodyagin (Großinquisitor) und Melih Tepretmez (Oberpriester) bildeten eine Phalanx eindrucksvoller Baßstimmen. Es besteht Grund zur Hoffnung, daß die gelungene Gelsenkirchener Neueinstudierung auch für andere Bühnen den Anstoß zur Auseinandersetzung mit Meyerbeers L’Africaine geben wird, – vielleicht auf der Grundlage der demnächst verfügbaren kritischen Ausgabe als Vasco de Gama?
Prof. Dr. Sieghart Döhring
Bild: Majer-Finkes, Rudolf Finkes
Das Bild zeigt Leah Gordon (Inès).