von Richard Wagner, Romantische Oper in drei Aufzügen, Text vom Komponisten; UA: 1843, Dresden
Regie: Tatjana Gürbaca, Bühne: Gisbert Jäkel, Kostüme: Silke Willrett, Marc Weeger, Lichtdesign: Wolfgang Göbbel, Dramaturgie: Carsten Jenß
Dirigent: Jacques Lacombe, Orchester und Chor der Deutschen Oper Berlin, Choreinstudierung: William Spaulding
Solisten: Reinhard Hagen (Daland), Matthias Klink (Erik), Paul Kaufmann (Steuermann), Ricarda Merbeth (Senta), Johan Reuter (Holländer), Liane Keegan (Mary)
Besuchte Vorstellung: 8. Juni 2008 (Premiere)
Kurzinhalt
Der fliegende Holländer ist dazu verflucht, mit seiner Mannschaft für ewige Zeiten auf dem Meer zu segeln. Alle sieben Jahre darf er für einen Tag das Land betreten, um eine Frau zu suchen, die ihm die Treue hält und ihn so erlöst. In der Bucht Sandwike vor der norwegischen Küste trifft er das Schiff des Kapitäns Daland an und wirbt bei ihm um seine Tochter, Senta. Beeindruckt von den Reichtümern des fremden Seemanns erklärt Daland sich bereit. Senta, die seit Kindheitstagen die Ballade vom fliegenden Holländer kennt und Mitleid mit dem Verfluchten hat, erkennt ihn sogleich bei ihrer ersten Begegnung. Um ihre Treue zu beweisen, stürzt sie sich von einem Felsen. Das Geisterschiff versinkt und der Fluch ist überwunden.
Aufführung
Diese Inszenierung läßt den Rezensenten ratlos zurück. Die Regisseurin hat sich – das wird schon an dem Kurzinhalt im Programmheft deutlich – auf Grundlage von Wagners Fliegendem Holländer interpretatorische Freiheiten erlaubt, die von der Originalhandlung der Oper nur noch einzelne Momente übrig lassen. Hierzu zwei Kostproben aus der Handlungszusammenfassung im Programmheft, nämlich deren erste und die letzte Sätze: Ein Schauplatz des Welthandels inmitten turbulenter Kursentwicklungen. Es regiert die Naturgewalt des Kapitals. Bei Daland laufen alle Informationen zusammen. […] Senta steht unter erhöhtem Beweisdruck: Wenn sie die Verbindung mit dem Holländer […] retten will, muß sie ihre Vergangenheit […] zurücklassen. Die Frauen folgen ihr. Die Männer, jetzt Wiedergänger ihrer selbst, nehmen die Arbeit wieder auf. Der Weltuntergang findet nicht statt, der Holländer bleibt übrig.
Diese Sätze zeigen ebenso wie die Inszenierung zweierlei: Eine Menge interessanter Ansätze einerseits, die jedoch andererseits überhaupt nicht zum Tragen kommen, weil es bei der Durchführung dieser vielen Ideen vollkommen an Konsequenz, an Zusammenhang, ja an Logik mangelt.
Auch hier muß angesichts der Fülle von Aktionen auf der Bühne ein Beispiel genügen: Während des Monologs des Holländers im ersten Aufzug, der einem großen Glaskasten mit einem Globus entsteigt (welcher in einem Raum plaziert ist, der wohl eine Börse darstellen soll) und mit einem dicken Mantel und Melone angetan – was wohl andeuten soll, daß er aus alten Zeiten stammt – umherschreitet, packt er ein stummes Mädchen (Lilian Dobbert), das wahrscheinlich Senta als Kind darstellen soll, und singt ihr energisch sein Wie oft in Meeres tiefsten Schlund / stürzt‘ ich voll Sehnsucht mich hinab entgegen.
Danach, bei Dich frage ich, gepries’ner Engel Gottes, erweckt er etliche wie tot herumliegende und -sitzende Männer (Börsianer?) zum Leben, die aufstehen und sich in einer Reihe hinlegen. Das gleiche machen übrigens die Spinnerinnen während der Ballade der Senta. Man fragt sich: Warum? Wo besteht hier der Zusammenhang? Ähnlich wie bei der bis zum Kryptischen frei assoziativen Handlungszusammenfassung bleiben beinahe alle entscheidenden Fragen unbeantwortet, die diese Inszenierung aufwirft: Was soll der Holländer darstellen? Das Gespenst des Kommunismus oder einen Schwarzen Freitag an der Börse? Warum muß der Steuermann nachts die Kurse überwachen, wenn der Aktienhandel geschlossen ist? Wieso schafft der Holländer es mit seinem Geld das Geschäft von Daland (oder der Weltwirtschaft?) anzukurbeln? Was sollen die Spinnerinnen darstellen, Friseurinnen oder Chefsekretärinnen? Was geschieht während des Geisterchores im dritten Akt, wenn die Börsianer (?) grob mit ein paar leblos herumliegenden Männern umgehen und sich plötzlich die Ohren zuhalten, nach Luft ringen und große Gesten vollführen? Ist in der Inszenierung womöglich eine politische Botschaft versteckt? usw.
Sänger
Abgesehen von der inhaltlich wirklich krausen Regie bekam man musikalisch an diesem Abend einiges geboten: Einen exzellenten Johan Reuter als Holländer, eine solide gesungene Senta (Ricarda Merbeth) und einen stimmlich überragenden Matthias Klink als Erik. Das Orchester spielte auf ordentlichem Niveau, sicherlich nicht Weltspitze, aber allemal besser als noch vor einigen Jahren. Den Chören mangelte es leider, möglicherweise aufgrund der überaus aktionsreichen Choreographie, an rhythmischer Präzision. Die Publikumsreaktion war an diesem Abend mehr als eindeutig: Beifall für die Interpreten und ein bis auf wenige Ausnahmen unversöhnlich laut buhendes Publikum, als das Regieteam die Bühne betrat.
Fazit
Musikalisch ist die Aufführung durchaus gelungen, wenn auch nicht in allen Teilen perfekt. Die Inszenierung ist jedoch aufgrund der vielen Unklarheiten der Regieführung trotz einiger origineller Einfälle und stimmungsvoller Momente insgesamt als völlig verunglückt zu bezeichnen.
Dr. Martin Knust
Bild: Matthias Horn
Das Bild zeigt Johan Reuter als Holländer, Lilian Dobbert als Senta-Double und
Ricarda Merbeth als Senta.