von Benjamin Britten (1913–1976) Oper in einem Prolog und zwei Akten, Libretto: Myfanwy Piper nach einer Novelle von Henry James, UA: 1954 Venedig
Regie: Frank Hilbrich, Dramaturgie: Hans-Georg Wegner, Kostüme: Gabriele Rupprecht, Bühne: Volker Thiele, Licht: Christian Kemmetmüller, choreographische Mitarbeit: Jaqueline Davenport, Dirigent: Daniel Montané, Bremer Philharmoniker
Solisten: Christian-Andreas Engelhardt (Prolog), Sara Hershkowitz (Gouvernante), Fritjof Klingenberg (Miles), Tiziana Ratcheva (Flora), Tamara Klivadenko (Mrs. Grose), Randall Bills (Peter Quint), Marysol Schalit (Miss Jessel)
Besuchte Aufführung: 28. Oktober 2011 (Premiere)
Zusammen mit der Haushälterin Mrs. Grose übernimmt eine Gouvernante die Erziehung zweier verwaister Kinder, Flora und Miles. Sie muß dem Onkel und Vormund der Kinder versichern, daß sie ihn niemals mit Fragen behelligen wird. Die Geister der verstorbenen Erzieher Miss Jessel und Peter Quint treiben ihr Unwesen im Haus. Sie scheinen die Kinder zu sich zu rufen und zeigen sich in Erinnerungsbildern. Die Gouvernante versucht herauszufinden, was passiert ist, und bricht schließlich ihr Versprechen, indem sie dem Onkel einen Brief schreibt. Den läßt Miles verschwinden. Die Kinder versuchen, der ständigen Beobachtung ihrer Erzieher zu entkommen. Flora wird daraufhin von Mrs. Grose fortgebracht. Miles dagegen bleibt mit der Gouvernante zurück, die gegen Quint um ihn kämpft. Der Junge stirbt.
Aufführung
Man sieht ein Fensterkreuz mit sich zunächst abwechselnd öffnenden Vorhängen, die den Blick auf vier gleiche Zimmer, taggrün oder nachtblau und mit einer weißen Couch und wenigen Requisiten versehen, freigeben. Die Zimmerwände sind durchsichtig, so daß die Darstellungen der verschiedenen Zeit-, Inhalts- und Vorstellungsebenen sich auf acht vervielfachen. Zum Ende hin sind alle gleichzeitig einsehbar. Die Protagonisten werden durch Doubles verdoppelt oder verdreifacht, die deren Gesichter als Maske mit bedrohlichem Ausdruck tragen und sich langsam bewegen. So werden die inneren Bilder und Phantasien der Kinder nach außen sichtbar gemacht. Die pantomimische Darstellung der sich zusammenfindenden und auflösenden Verbindungen zwischen den Personen ist deutlich harmloser als die Vorstellungen, die davon ausgelöst werden.
Sänger und Orchester
Die 13 hervorragend spielenden Musiker interpretieren das vielfach variierte „Schrauben-Thema“, das alle zwölf Töne der chromatischen Skala enthält und in Form von Zwischenspielen die gesungenen Szenen umrahmt, mit verstörender Intensität. Wenn einzelne Instrumente bzw. deren Motive Personen charakterisieren, treten die Musiker solistisch hervor. Zum Beispiel verkörpert das „himmlische“ Instrument der Celesta das Böse von Quint mit hypnotisierend wirkenden Klängen, der weibliche Geist von Miss Jessel wird mit Gongschlägen angekündigt. Allen Sängern gelingt es souverän, ohne einen tonalen Hintergrund ihre eigenen Töne zu finden.
Sara Hershkowitz (Gouvernante) sprang für die erkrankte Nadine Lehner ein und spielt die an ihrer Aufgabe verzweifelnde Gouvernante mit großem Einfühlungsvermögen. Tamara Klivadenko (Mrs. Grose) spielt authentisch und mit eindringlichem Stimmvolumen die zwischen Gewissenhaftigkeit und Panik hin- und hergerissene Haushälterin bzw. Zeugin der Vergangenheit. Randall Bills (Peter Quint) verkörpert mit einem hohen Tenor den smarten, undurchschaubaren Diener. Sein Auftritt als Mannfrau ist der schräge Kulminationspunkt der Aufführung. Marysol Schalit (Miss Jessel) singt und spielt den Geist der im Hintergrund ihre Fäden spinnenden Erzieherin mit gebotener Zurückhaltung. Fritjof Klingenberg (Miles) kann den zwischen kindlicher Unberührtheit und zunehmendem Unwohlsein hin- und herpendelnden Jungen überzeugend wiedergeben. Sein mit großen Armschwüngen vollzogenes Dirigat eines Orchesterzwischenspiels nimmt einem in seiner mehrdeutigen Intensität fast den Atem.
Tiziana Ratcheva (Flora) besitzt eine volltönende Stimme und kann die teils alberne, teils in sich gekehrte Pubertierende in ihrem dunkelgrünen Faltenrock mit eckigen Bewegungen glaubhaft wiedergeben.
Fazit
Frank Hilbrich gelingt eine Inszenierung der Auswirkungen eines verborgenen Familientraumas, die den Zuschauer unmittelbar beeindruckt und in seinen Bann schlägt. Das Publikum drückte seine Betroffenheit und seine Begeisterung für die außerordentlichen Leistungen aller Beteiligten durch langanhaltenden Beifall aus.
Carola Jakubowski
Bild: Jörg Landsberg
Das Bild zeigt: Tiziana Ratcheva (Flora), Fritjof Klingenberg (Miles)