LA MUETTE DE PORTICI – DIE STUMME VON PORTICI – Paris, Opéra Comique

von Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871), Oper in fünf Akten, Libretto: Eugène Scribe und Germain Dalavigne, UA: 29. Februar 1828 Paris, Salle de la rue Le Peletier)

Dirigent: Patrick Davin, Orchester und Chor des Théâtre Royal de la Monnaie, Brüssel

Regie: Emma Dante, Bühne/Kostüme: Carmine Maringola (Bühnenbild) und Vanessa Sannin, Licht: Dominique Bruguière, Choreographie: Sandro Maria Campagna

Solisten: Elena Borgogni (Fenella), Maxim Mironov (Alphonse), Église Gutièrrez (Elvire), Michael Spyres (Masaniello), Laurent Alvaro (Pietro) u.a., eine Schauspielertruppe

Besuchte Aufführung: 5. April 2012 (Premiere)

Kurzinhalt

Alphone, der die stumme Fenella verführt hatte, heiratet nun die spanische Prinzessin Elvire. Beim Hochzeitszug fleht Fenella Elvire um Schutz an und erzählt ihr mit Gesten ihr Schicksal. Elvire ist schockiert, als sie erfährt, wer der Verführer ist. Fenella flieht zu ihrem Bruder Masaniello, dem Anführer der Aufständischen. Masaniello und Pietro schwören als Rache den Sturz der spanischen Herrschaft herbeizuführen. Alphonse gelingt es Elvira zu versöhnen. Masaniello bedauert, daß sein Aufstand in Gewalttaten und sinnloser Zerstörung ausartet. Elvira und Alphonse, von den Rebellen verfolgt, finden bei Fenella und Masaniello Zuflucht. Von Fenella überzeugt, zwingt Masaniello Pietro, das Gesetz der Gastfreundschaft zu respektieren und läßt die Flüchtenden entkommen. Das Volk erhebt Masaniello zum König. Doch Pietro flößt ihm Gift ein, weil er ihn für den neuen Tyrannen hält. Ein spanisches Entsatzheer nähert sich. Das Volk ruft den halluzinierenden Masaniello um Hilfe an. Er erwacht aus seinem Delirium und führt sie erneut in den Kampf. Doch als er Elvire vor dem Tode rettet, wird er von den eigenen Leuten ermordet. Fenella gibt sich den Tod. Der Vesuv bricht aus. Das Volk glaubt an eine Strafe Gottes und bittet um Vergebung.

Aufführung

Ein minimalistisches Bühnenbild, hauptsächlich aus beweglichen Türen bestehend, die man verschieben, drehen oder verschwinden lassen kann und die rot tapeziert mit Kronleuchter den Königspalast, in einfacher Form mit einsamer Glühbirne eine Fischerhütte oder eine Strassenfassade darstellen. Für die Szenen am Meer im Wind wehende leichte Vorhänge. Das „Volk“ in schlichter Volkstracht um 1800. Masaniello in der Wahnsinnsszene als Dickwanst mit nacktem Oberkörper. Die steife Hofgesellschaft, übertrieben geschminkt und gepudert, in stilisierten Rokokokostümen. Die Reifröcke der Damen, vorne offen, geben den  Blick auf bunte Strumpfhosen frei. Vier lebensgrosse Puppen auf Rollsockeln tanzen mit den Soldaten. Prinz und Prinzessin in hellblauer Seide, wie aus einem Kitschmärchenfilm. Die Soldaten, hingegen, in schwarzgrauen, engen Uniformen, Kopfhauben und Brustpanzern wie aus einem Utopiafilm.

Sänger und Orchester

Die Hauptfigur der Oper, Fenella, ist stumm. Doch Elena Borgogni in einfachem Kleid mit langer roter Stola wiegt diesen Mangel auf durch eine bilderreiche Choreographie aus modernem Ausdruckstanz, Pantomime und Schauspielgestik und bleibt damit Mittelpunkt der Handlung. Zwischen der Wildheit eines in die Enge getriebenen Tieres –sich manchmal wie ein Primat auf allen Vieren fortbewegend – und fragiler Weiblichkeit bringt sie glaubhaft Leid, Verzweiflung, Eifersucht, Liebe und Zärtlickeit zum Ausdruck. Maxim Mironovs singt die etwas farblose Rolle des Alphonse. Seine helle, wohltimbrierte Stimme erfreut gleich am Anfang der Oper in Ah! Ces cris d’allégresse. Im Gegensatz dazu verkörpert Michael Spyres als Masaniello die Urkraft des Volkes. Er spielt (besonders in der Wahnsinnsszene) und singt mit kräftigem und klangvollem Tenor erfrischend die Barkarole Amis, la matinée est belle (2. Akt) im Wechselgesang mit dem Chor, und sehr bewegend das pianissimo Wiegenlied für Fenella Ferme les yeux la fatigue t’accable (4. Akt). Église Gutiérrez (Elvire), deren voller, tiefer Sopran in der Hochzeitsarie Plaisirs du rang suprême (1. Akt) überzeugt, meistert leider nur mangelhaft die Höhen in der schönen lyrischen Arie Vous, nous trahir! (4. Akt). Laurent Alvaros’ etwas raue, tiefe und kraftvolle Baritonstimme macht ihn zu einem idealen Pietro, besonders mitreißend im feurigen patriotischen Gesang L’amour sacré de la patrie (2. Akt) im Duett mit Masaniello. Die übrigen Solisten unterstützen erfolgreich das Ensemble. Der volle kräftige Chor spielt eine wichtige Rolle.

Patrick Davin dirigiert die zwischen Hochdramatik, Lyrik und volksliedhaften Motiven ständig wechselnde, hinreißende Partitur schwungvoll und präzise.

Fazit

Die Stumme von Portici, diese seit über 100 Jahren in Deutschland wie in Frankreich vernachlässigte Oper, hatte in 19. Jahrhundert einen nachhaltigen Erfolg. Sie wurde in Frankreich der entscheidene Wendepunkt von der noch von Gluck und der späteren Klassik beeinflussten höfischen Oper eines Gétry oder Boieldieu zur bürgerlichen Grand Opéra der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schon der junge Richard Wagner ließ sich von diesem neuen Operntypus beeindrucken: Es muß etwas Besonderes, fast Dämonisches im Spiele sein…Hier war eine große Oper! Darüber hinaus, hat sie durch ihren revolutionären Inhalt, nach der Aufführung in Brüssel 1830 mitgeholfen, den Aufstand auszulösen, der zur Gründung des Königreichs Belgien führte. Auch in der heutigen Welt scheint sie mehr denn je aktuell. Die Opéra Comique hat dieses einzigartige Werk in einer sehr schönen Wiedergabe noch einmal zum Leben erweckt, was vom Premierenpublikum mit viel Beifall bedacht wurde.

Alexander Jordis-Lohausen

 

Bild: DR E. Carecchio

Das Bild zeigt: Fenella-Elena Borgogni (Portici)

Amis, la matinée est belle

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