Le Massacre du Printemps – Paris, Théâtre des Champs-Élysées

Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps (Das Opfer des Frühlings), das 1913 im Théâtre des Champs-Elysées in Paris vom Diaghilews Ballets Russes uraufgeführt wurde, ist sowohl die für Musik, wie für das Ballet des 20. Jahrhunderts eines der einschneidensten Ereignisse gewesen.

Le Sacre du printemps von Igor Stravinsky (1882-1971), Choreographie: Vaslav Nijinski  (1913), Choreographie 2013: Sasha Waltz

Choreographie, Bühne/Kostüme, rekonstruiert von Millicent Hodson und Kenneth Archer (1987)

Version Sasha Waltz: Bühne: Pia Maier Schriever, Sasha Waltz, Kostüme: Bernd Skodzig, Licht: Thilo Reuther

Dirigent: Valeri Gergijew, Orchestre und Ballett des Mariinsky-Theaters

Production Théâtre Mariinsky (Le Sacre du printemps), Production Théâtre Mariinsky und  Sasha Waltz & Gäste (Sacre)

 

LE SACRE DU PRINTEMPS -Das „Massacre“ („Das Gemetzel“) vom 29. Mai 1913

Die Initiative für diese Uraufführung, die einen wilden Skandal entfesselte, ging vom Impresario Gabriel Austruc aus. Er hatte schon 1909 Diaghilews Ballets Russes von Sankt Petersburg nach Paris verpflichtet und im Théâtre Châtelet mit Strawinskis Der Feuervogel (1910) und Petruschka (1911) Umwälzungen angebahnt.

Doch Austruc wollte nicht im Châtelet bleiben, er wollte sein eigenes Theater. Und so entstand  mit Hilfe eines kunstsinnigen Finanziers  das Théâtre des Champs-Elysées. Es sollte mit französischem Geschmack, englischer Bequemlichkeit und deutscher Technik die moderste und die schönste Bühne in Paris werden. Von Henry van de Velde und Auguste Perret entworfen, gehört es heute zu den wenigen Art Deco Bauten der französichen Hauptstadt, und ist zugleich das erste aus Stahlbeton gebaute Theater, was dem Zuschauerraum die sichtstörenden Säulen erspart. Auch die Akustik ist hervorragend. Mit Fassadenreliefs von Emile-Antoine Bourdelle und  einer Innenausstattung durch zeitgenössische Künstler zwischen Jugendstil und Art Deco, wie Maurice Denis, Edouard Vuillard oder René Lalique, gehört es zu den künstlerisch einheitlichsten Musiktheatern des frühen 20. Jahrhunderts.

Beim feierlichen Eröffnungskonzert am 2. April 1913 dirigierten die damals bekanntesten französischen Komponisten Claude Debussy, Paul Dukas, Gabriel Fauré , Vincent D’Indy und Camille Saint-Saëns eigene Werke.

Knapp zwei Monate nach dieser Eröffnung stand am 29. Mai 1913 ein Balettabend der Ballets Russes auf dem Programm mit u.a. der Uraufführung des Sacre du Printemps.

Igor Strawinsky hatte den Inhalt dieses neuen Werks mit dem Maler Nicolas Roerich, der auch die Kostüme und Dekors entwarf, nach archaischen, russischen Legenden entworfen und zwischen 1911 und 1913 komponiert. Es zerfällt in zwei Teile. Der erste Teil, das Frühlingserwachen und der Kult der Erde. Nach einer kurzen Orchestereinleitung des Erwachens feiern junge Männer und junge Mädchen in Ritualtänzen den Frühling und huldigen der Erde, zu denen der uralte Weise Mann mit langem weißem Bart erscheint. Im zweiten Teil wird  unter den jungen Mädchen diejenige erkoren, die sich in diesem Jahr den Urgewalten opfern soll. Die Vorfahren werden angerufen. Und im abschließenden Sakraltanz, der einzigen Solodarbietung des Ballets, tanzt die Auserwählte so lange, bis sie tot zur Erde stürzt. Ein letzten Zucken ihres Körpers, ein letzter Orchesterschlag und der Vorhang fällt.

Die Einleitung des Erwachens beginnt mit einem klagendem Fagott Solo, in das sich nach und nach die anderen Blasinstrumente mischen, bis schließlich stark rythmisch und lautstark das volle Orchester einsetzt und der Tanz beginnt. Strawinski hat ein Orchester von 120 Mann vorgesehen, davon allein vierzig Bläser. Seine Musik ist der völlige Bruch mit dem bisher Dagewesenen. Obwohl hin und wieder noch alte russische Volkweisen anklingen wie schon bei Petruschka, sind es keine gefälligen post-romantischen Melodien mehr, sondern barbarisch-brutale Orchesterakkorde, grelle Dissonanzen und gewaltige Lautstärke. Doch das erschreckend Neue, der unentwegte Taktwechsel, die gehämmerten Rythmen und Geräuscheffekte, die erregenden Ostinati und manischen Motivwiederholungen, die aufpeitschend harten, befremdenden Klangwirkungen – das alles wurde äußerst bewußt manipuliert. (Hans Renner).

In ‚Le sacre’ habe ich meinem Orchester die Furcht anvertraut, die jeden fein empfindenden Geist vor der Macht der Elemente überkommt schreibt Strawinsky selbst über das Werk.

Zu dieser Musik hat Vaslav Nijinski, diesmal nicht Tänzer, die Choreographie geschaffen. Und auch hier ist es ein völliger Bruch. Wer an das romantische Ballet des 19. Jahrhunderts gewöhnt war, konnte es nur als Schock empfinden. Kein Spitzentanz mehr, keine Tutu-Röckchen, keine schwebenden Elfen mit graziösen Hand- und Armbewegungen. Was Nijinsky auf die Bühne bringt, ist erdenschweres, archaisches Volkstum. Gruppentanz wie um ein Totem oder bei Druidenzeremonien, barbarisches Stampfen, wilde Luftsprünge, ruckartige Bewegungen. Für die Tänzer oft höchst ungewöhnliche Stellungen und verkrampfte Haltungen. Dabei beunruhigende, spannungsgeladene, manisch-besessene Untertöne.

Diaghilew wußte, daß er mit dieser Partitur und dieser Choreographie in Paris ein Risiko eingehen würde, doch er nahm  diese Wette an.

LE SACRE DU PRINTEMPS -Gala-Abend des 29. Mai 1913

Für den Gala-Abend des 29. Mai 1913 war in jenem Paris, das die Hauptstadt der Belle Epoque darstellte, im neuen Théatre des Champs Elysées, alles, was Rang und Namen hatte, versammelt: die europäische Hocharistokratie, der Aga Khan, die Hochfinanz New Yorks, der Botschafter Österreich-Ungarns, die reichen Bürger – in den Logen funkelten die Juwelen und Diademe, raschelten die seidenen Abendkleider. Weit weniger elegant, die Erneuerung heischende Jugend: die Schriftsteller Marcel Proust, Jean Cocteau, Paul Claudel, Gabriele d’Annunzio, die Maler Pablo Picasso, Jean-Louis Forain und vor allem die Musiker der jungen Generation Claude Debussy, Erik Satie, Darius Milhaud, Francis Poulenc, Arthur Honegger, von denen einige schon für die Ballets Russes komponiert hatten, und nicht zuletzt auch die Modeschöpferinnen, welche die Frauen aus ihren Korsetts befreien wollten wie Jeanne Lanvin und Coco Chanel.

Schon nach den ersten Takten fühlten sich viele, vor allem die älteren Generationen, vor den Kopf gestoßen. Verblüffung, Unglauben und dann Empörung, Ärger, und totale Ablehnung bei den einen, Begeisterung, Bravos bei den anderen. Génie, génie! schrie Maurice Ravel, Kakophonie! schreien andere. Witzworte, Schmähungen, Wutschreie, Pfiffe, Trillerpfeifen, Fahrradhupen. Bald johlte und schimpfte das ganze Haus, die einen dafür, die anderen dagegen. Der Radau artete in Kampf aus schrieb Cocteau. Zuletzt waren der Lärm und das Tohuwabohu im Zuschauerraum so groß, daß die Tänzer Schwierigkeiten hatten, weiterzutanzen, weil sie die Musik nicht mehr hören konnten. Nijinsky machte Gabriel Austruc in der Direktorenloge verzweifelte Zeichen, den Verhang herunterzulassen. Doch Diaghilew hatte schon vor der Vorstellung die Parole ausgegeben: Was immer passiert, das Ballett muß zu Ende getanzt werden! Und so schlug der Dirigent, Pierre Monteux, unerschütterlich den Takt weiter. Schließlich beugte sich Austruc über die Brüstung seiner Loge hinaus und brüllte: Hört doch zuerst zu, und pfeift nachher! Und tatsächlich legte sich der Lärm weitgehend bis zum Ende des Balletts, um dann allerdings verstärkt loszubrechen.

Die Pariser Zeitungen sprachen am nächsten Morgen von Skandal und vom „Massacre du Printemps“. Doch nicht nur in Paris brodelte es unter den Künstlern, die den Umschwung vorausfühlten. Fast zur gleichen Zeit, am 31. März 1913, kam es im Wiener Musikvereinssaal zu einem ähnlichen Skandalkonzert, das unter dem Namen Das Watschenkonzert in die Musikgeschichte eingegangen ist. Dort dirigierte Arnold Schönberg Werke der Zweiten Wiener Schule. Und ein Jahr nach diesen künstlerischen Revolutionen brach dann mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs die „neue“ Welt, fortschrittlich, brutal, barbarisch, über das alte Europa herein.

Doch Diaghilews und Strawinskys Wette ist aufgegangen. Es war die Geburtsstunde des modernen Balletts und einer neuen Musik. Nach diesem einmaligen Abend des Skandals beginnt der internationale Triumphzug des Werkes. Inzwischen hat es, laut Sasha Waltz, 180 verschiedene Versionen des Balletts gegeben – jeder Choreograph, der auf sich hielt, wollte sich daran versucht haben. Allein im Théâtre des Champs-Elysées ist das Werk in Laufe der Jahre als Ballett oder konzertant 46 Mal aufgeführt worden.

Das Théâtre des Champs-Elysées hat nun im Rahmen ihrer festlichen Jubiläumssaison 100 Jahre Tag für Tag nach dem der skandalumwitterten Uraufführung in einer Doppelaufführung die von Millicent Hodson und Kenneth Archer rekonstruierte Originalchoreographie Vaslav Nijinskys (1913) und Sasha Waltz’ Choreographie desselben Werkes (2013) einander gegenübergestellt. Es tanzten in beiden Versionen das Ballett des Mariinsky Theaters, Sankt Petersburg, begleitet vom Orchester des Mariinsky unter Leitung von Valeri Gergijew.

LE SACRE DU PRINTEMPS -Die Aufführung am 29. Mai 2013

Heute, nach hundert Jahren, kommt uns Nijinskys Version  selbstverständlich, ja fast klassisch-traditionell vor – zu viel hat sich seit damals im Ballett weiterentwickelt. Man merkt auch wie perfekt seine Choreographie der Musik entspricht. Visuell sind sie ein ästhetisches Vergnügen, Nicolas Roerichs Kostüme und gemalten Dekors sind wahre Kunstwerke. Die Kostüme, stark angelehnt an die farbenfreudigen Bauerntrachten des alten Rußland, wirken heute märchenhaft. Dagegen, fällt auf, wie sehr die Choreographie Nijinskys die Tänzer hin und wieder einschränkt, in unnatürliche Stellungen zwingt, ihre natürliche „fließende Linie“ hemmt, so daß ihre Bewegungen oft fast mechanisch wirken und ihre tänzerische Kunst nicht voll zur Geltung kommt.

In diesem Zusammenhang ist vielleicht die Klage einer seiner Startänzerinnen interessant: Ich sollte den Kopf nach der einen Seite gedreht halten, die Arme verrenkt und die Hände gefaltet, als wäre ich verkrüppelt … Da ich nichts verstand, nahm ich hin und wieder eine normale Stellung an, und Nijinsky beschwerte sich dann, daß ich mich absichtlich weigere, das zu tun, was er verlange.“

Sacha Waltz arbeitet auf leerer Bühne, unterstützt nur durch die Beleuchtung und beim einleitenden Erwachen sehr eindrucksvoll mit einem „Nebel“. Die Kostüme, farblos grau oder beige, sind lange leichte Kleider für die Tänzerinnen, auf der einen Seite bis zur Hüfte aufgeschlitzt, einfache Hosen und lange Umhänge oder nackter Oberkörper für die Tänzer. Die Gruppen sind im Raum wirkungsvoll verteilt. Und im Gegensatz zur ersten Version ist hier der Tanz freie Bewegung, und es entfaltet sich die bewunderswerte Kunst des Mariinsky Ensembles, und vor allem die Ekaterina Kondaurovas in der Solo-Schlußszene. Auffallend die Idee des Kampfes der Geschlechter. Selbst wenn Sasha Waltz eine eigene interessante, spannungsgeladene Choreographie gelungen ist, sind gewisse Einflüsse von Maurice Bejard und Pina Bausch nicht zu übersehen.

Valeri Gergijew ist ein Titan. Als Generaldirektor des Mariinsky hat er 2006 nicht nur einen neuen Konzertsaal, sondern Anfang Mai 2013 mit „seinem“ Mariinky II auch ein neues, ganz modernes Opernhaus neben das alte Theater in St. Petersburg gestellt, denen er nun allein vorsteht. Daneben hat er zahlreiche internationale Verpflichtungen.

(Siehe auch das Interview mit Larissa Gergjewa, Direktorin der Akademie für junge Sänger im Mariinsky Theater, Sankt Petersburg, OPERAPOINT, Heft 1, 2012)

An diesem denkwürdigen Abend in Paris hat Valeri Gergijew mit bewunderswerter Präzision, aber auch mit der erforderlichen Kraftentfaltung das Orchester, wie auch die ganze Aufführung, meisterhaft geleitet.

Im Théâtre des Champs-Élysées sind im Laufe 20. Jahrhunderts die größten Künstler und Musiker aus aller Welt aufgetreten, und es hat bis heute sein Renommee als eines der besten und aktivsten Musiktheater in Paris bewahrt.

Alexander Jordis-Lohausen

Bilder: Tanz der Mädchen, V. Pontet/Wikispectacle

 

 

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