Musik: Piotr Iljitsch Tschaikowsky, Libretto: Marius Petipa (1818- 1910), UA: 16. Januar 1890 St. Petersburg, Mariinski-Theater
Choreographie: Rudolf Nurejew (1938-1993) nach Marius Petipa, UA dieser Fassung: 1989 Paris, Opéra national)
Bühne: Ezio Frigerio, Kostüme: Franca Squarciapino, Licht: Vinicio Cheli
Dirigent: Fayçal Karoui, Orchestre de l’Opéra national de Paris
Solisten: Ludmila Pagliero (Prinzessin Aurore), Josua Hoffalt (Prinz Désiré), Nolween Daniel (Carabosse), Juliette Gernez (Fliederfee) u.a.
et le Corps de Ballet
Besuchte Aufführung: 26. Dezember 2013 (Premiere 4. Dezember 2013)
Die École Française de Danse de l‘Opéra Paris blickte 2013 auf 300 Jahre seit ihrer Gründung als Ballettschule durch Ludwig XIV. zurück (Titelbild OPERAPOINT 2/2013). Nach wie vor ist die Auswahl für die Ballett-Eleven sehr streng, und dem Erreichen des Ziels eines makellosen Tänzers bzw. Tänzerin sind viele Hürden gesetzt. Das Ergebnis ist allerdings einzigartig wie die Darbietung von Tschaikowskis Ballett Dornröschen bewies.
Als 1890 die Uraufführung im Kaiserlichen Theater in St. Petersburg über die Bühne ging, beendete dieses Ballett den Niedergang der Ballettaufführungen, die sich in Rußland bemerkbar gemacht hatte. Nach der Glanzzeit zwischen 1830-40 des romantischen Balletts – darunter La Sylphide von Filippo Taglioni, worin seine Tochter, Marie Taglioni, mit dem Spitzentanz einen neuen Stil einführte, kam es ab 1850 zu einem gewissen Stillstand, zum Teil hervorgerufen durch Theaterdirektoren besonders in St. Petersburg, die nur ihrem Ruf am Hof und ihrem persönlichen Interesse gegenüber den Tänzerinnen frönten und dabei die künstlerische Qualität vergaßen. Hinzu kam, daß die Choreographen, die unbeschränkt herrschten, nur darauf aus waren, die optische Wirkung der Tänzerinnen zu vermehren.
Nun übernahm Prinz Ivan Alexandrowitsch Wsewoloschsky 1881, ein im Ballett sehr versierter, französisch orientierter Mann, als Direktor die kaiserlichen Bühnen. Er beauftragte den französischen Ballettmeister Marius Petipa (1818-1910), seit 1868 als Choreograph an den Bühnen verpflichtet, ein Dornröschen-Ballett zu schreiben. Tschaikowsky hatte ihm nach längerem Bitten hierzu die Musik zugesagt.
Kurzinhalt
Irgendwann im 17. Jahrhundert am Hof des Königs Florestan XIV. findet die Taufe von Prinzessin Aurora, des lang erwarteten, einzigen Kindes des königlichen Paares, statt. Die Feen präsentieren die Festgaben: Schönheit, Grazie (Anmut), Brot, Beredsamkeit, Energie und Weisheit. Plötzlich erscheint die böse Fee Carabosse und verheißt Aurora einen frühen Tod. Doch der Fluch schwächt die Fliederfee ab: Aurora wird nach dem Stich an einer Spindelnadel nicht sterben, sondern einhundert Jahre schlafen.
Als Aurora 16 Jahre alt wird, halten vier Prinzen aus allen Himmelsrichtungen um ihre Hand an. Auf diesem Fest erscheint eine alte Frau, die auf Auroras Bitten ihr eine Spindel reicht, an der sie sich sticht und einschläft. Mit ihr versinkt der ganze Hof in Schlaf. Einhundert Jahre später sucht Prinz Désiré eine Frau. Die Fliederfee erscheint und führt ihn in den Wald, wo er die schlafende Prinzessin Aurora durch einen Kuß weckt. Diese läßt den ganzen Hof und ihre königlichen Eltern aufwachen. Ein großes Hochzeitsfest folgt, und alle leben glücklich bis an ihr Ende.
Der riesige Thronsaal wird von hohen Säulen mit schräg nach oben gerichteten breiten Girlanden geschmückt. Der Hintergrund läßt eine Sicht ins Freie zu, wo man einen Liebstempel und die Front eines Tempels erblickt. Im zweiten Akt finden wir uns auf eine Waldlichtung wieder. Im dritten Akt befinden wir uns wieder im Thronsaal. Jetzt wird der Hintergrund vom Thron eingenommen. Doch dahinter sind draußen der runde Liebestempel und die seitliche Front des Tempels zu erahnen.
Das Handlungsballett
Die Ausgewogenheit der Darstellung und ihre Beschreibung würden Seiten füllen. Beschränken wir uns auf die auffallendsten Szenen.
Im Prolog ahmt die Tänzerin nach der Musik einen singenden Kanarienvogel mit ungemeiner Deutlichkeit nach (6. Variation). Sehr schnelle Stechschritte auf den Spitzen imitieren den scheuen Vogel (Charline Giezendanner). Die Armbewegungen (Port de bras) sind ausgesprochen putzig anzusehen Danach erscheint die Fliederfee (Juliette Gernez) unter einschmeichelnden Walzerklängen, gefolgt von einem präzis tanzenden Corps de ballet mit ihren geschachtelten Schritten (Pas emboîté).
Die kurzen Tänze werden jedesmal zum Abschluß beklatscht. Das Publikum zeigt darin seine Vertrautheit mit dem Handlungsablauf.
Nun stürmt in dunkelblauem, langem Gewand Carabosse (Nolween Daniel) mit ihren Ratten in den Thronsaal, begleitet von weißen Rauchwolken. Doch glücklicherweise eilt die Fliederfee in hellblauem Kleid herein und mindert den tödlichen Fluch in hundertjährigen Schlaf ab.
Der erste Höhepunkt ist die Brautwerbung der vier Prinzen, wobei beim ersten langsamen Tanzteil (Adagio) Aurora ein mustergültiges Équilibre en attitude zeigt (der Körper steht, bei gestrecktem Bein, auf der Fußspitze, das andere Bein wird nach hinten waagerecht gestreckt). Doch die überreichten Rosen verschmäht Aurora, sie will keinen der vier Prinzen. Eine kleine Alte erscheint mit einer Spindel. Aurora bittet sie um die Spindel und sticht sich. Angstvoll auf ihren Finger schauend wird sie orientierungslos, bewegt sie sich auf den Spitzen nach rückwärts, wird ohnmächtig und auf ein prächtiges Sofa gelegt. Alle fallen in Schlaf.
Nach der wundervollen Zwischenaktsymphonie (Nr. 19 der Partitur), die den hundertjährigen Schlaf darstellt (Tschaikowsky hielt dies für sein bestes Stück), trifft Prinz Désiré auf einer Jagd die Fliederfee. Ihr schildert er sein Leid, daß er vergeblich eine Frau sucht. Die Fee führt ihn in einen dichten Wald, wo er Prinzessin Aurora findet und durch einen Kuß aufweckt.
Der dritte Akt beginnt nicht – wie in der Partitur vorgesehen – mit einem Marsch, sondern mit der Sarabande, die Tschaikowsky ungemein kongenial dem Barocktanz nachempfindend komponiert hat; keine falsche Entscheidung, denn damit gelang es, den heutigen Zuschauer in die „königliche Zeit“ des 17. Jahrhunderts zurückzuversetzen. Vor dem Thron beleuchten drei Kronleuchter zwischen den hohen seitlichen Säulen die Tanzfläche, auf der sich die Damen und Herren des Corps de ballet anmutig im Dreivierteltakt bewegen. Es ist vielleicht das geschlossenste Ensemble der ganzen Vorstellung. Tschaikowskys Melodie prägt sich geradezu als Ohrwurm ein, der einem noch lange nach der Vorstellung in angenehmer Weise verfolgt.
Die Hochzeit von Prinzessin Aurora wird ein großes Fest. Auch für uns ist es eine Folge von nicht abreißenden Höhepunkten. (Im ausgezeichneten Programmheft kann man die Einzelzeiten bestens verfolgen.)
Zweifellos ragt darunter der Auftritt des blauen Vogels (L’Oiseau bleu) mit Partnerin (Marc Moreau/Charline Giezendanner) hervor. Hier sind die kraftvollen Sprünge (Grands Jetés) und später das Solo von Josua Hoffalt (Prinz Désiré) mit Kaskaden von Jetés, Brisés oder Chassés einfach umwerfend. Mit seiner Partnerin Ludmila Pagliero (Prinzessin Aurore) erfolgt zum Schluß noch in vollendeter Art Le temps de poisson (Partner hält seine Partnerin wir einen Fisch am ausgestreckten Arm mit dem Kopf nach unten). Nun reißt’s das Publikum von den Stühlen.
Fazit
Mir scheint, dieses „Ballett der Ballette“ ist ein „Must“ für alle Melomanen. Von Tschaikowskys Bruder Modeste ist überliefert, daß damals 1890, die Petersburger sich nicht mehr mit „Wie geht es Ihnen“ begrüßten, sondern mit „Haben Sie Dornröschen gesehen?
Bei dieser Darbietung stimmte alles: der Hintergrund (Bühnenbilder), die Kostüme aus der Zeit Ludwig XIV., die Choreographie (Rudolf Nurejew) und der Elan des Orchesters der Pariser Oper unter Fayçal Karoui. Nach all den Operninszenierungen mit Einheitsbühnenbild, Tiefgaragen, Parkplätzen oder braunen Kostümen eine Erfrischung für geschundene Gefühle und vernachlässigte Phantasie.
Dr. Olaf Zenner
Bild: Sébastien Mathé/Opéra National Paris
Die Bilder zeigen:
1) Corps de ballet mit Blumenkranz
2) Der blaue Vogel (L’Oiseau bleu): Marc Moreau/Charline Giezendanner
3) Temps de poisson (Fischfigur): Eleonora Abbagnato/Mathieu Ganio