2014 jährt sich der Geburtstag des sogenannten ‚Hamburger Bachs’ zum 300. Mal. Seine Musik und sein Name dürften derzeit nur Fachleuten bekannt sein. Dabei stellte er zu seinen Lebzeiten selbst das Werk seines berühmten Vaters Johann Sebastian in den Schatten und beeinflußte Haydn, Mozart und Beethoven. Grund genug, sich auf die Spurensuche in der Musikgeschichte zu begeben.
1. C.P.E. Bach – Ein biographischer Abriß
Carl Philipp Emanuel (1714-1788) war nach Wilhelm Friedemann (1710-1784) der zweite Sohn Johann Sebastian Bachs, der das Erwachsenenalter erreichte. Er wurde in eine Dynastie mitteldeutscher Musiker hineingeboren und wie seine Geschwister von seinem Vater musikalisch ausgebildet. Zeit seines Lebens sollte er in diesem Milieu verbleiben, d.h. sowohl beruflich wie auch privat kreiste sein Leben um die Musik. Durch seine Familie eröffnete sich ihm buchstäblich von Geburt an ein breites Netzwerk von professionellen Kontakten: Einer seiner Taufpaten war Georg Philipp Telemann. Als er neun Jahre alt war, beschloß sein Vater, die für ihn beruflich vergleichsweise uninteressante Anstellung als Thomaskantor in Leipzig anzunehmen, damit seine Söhne die Möglichkeit einer höheren Ausbildung erhalten sollten, die in Köthen nicht gegeben war. C.P.E. Bach studierte hier später Jura, auch wenn er sich dann – wahrscheinlich wenig überraschend für seine Familie – für eine Musikerlaufbahn entschied. Von seinem Vater wurde er im Orgel- und Cembalospiel, in Komposition und vielleicht auch im Geigenspiel unterwiesen. Etwa im Alter von 16 Jahren dürfte er damit begonnen haben, selber zu komponieren.
Unklar ist, wie und wann exakt C.P.E. Bach an den Hof des preußischen Königs Friedrich II. kam. Möglicherweise war er bereits vor dessen Krönung am Hofe des musikbegeisterten preußischen Kronprinzen als Cembalist in Rheinsberg und Ruppin tätig gewesen. In jedem Fall ist seine Anstellung als Kammercembalist erst für den Beginn der 1740er Jahre verbürgt, zu dessen Pflichten – oder vielmehr Privilegien – die Begleitung des Königs, der die Flöte spielte, gehörte. Doch fühlte sich Bach nach einigen Jahren in Berlin nicht mehr sonderlich wohl. Er und seine Familie bekamen hier die Folgen des Siebenjährige Krieges zu spüren. Darüber hinaus kam es innerhalb der Berliner Hofkapelle zu Spannungen und auch als Komponist konnte er sich am preußischen Hofe nicht recht profilieren. Friedrich II. ließ stattdessen vor allem die Gebrüder Graun und Johann Adolph Hasse zum Zuge kommen. Bach nahm seit Mitte der 1750er Jahre vor allem als Privatperson am Musikleben in Berlin teil und veröffentlichte zahlreiche Texte und Kompositionen. 1767 bewarb er sich mit Erfolg um die Stelle des Musikdirektors von Hamburg, die bis dahin sein gerade verstorbener Taufpate Telemann innegehabt hatte. Hamburg sollte die letzte Station auf seinem Lebensweg werden. Hier schrieb er einige seiner bedeutendsten Werke, z.B. das Oratorium Die Israeliten in der Wüste Wq 238, und baute sich einen Kreis von Bekannten auf, zum dem u.a. Lessing und Klopstock gehörten. Er starb hochangesehen und im Besitz seiner kreativen Kräfte.
2. C.P.E. Bach und seine Zeit
Wenn man im späten 18. Jahrhundert von dem „großen Bach“ sprach, so meinte man nicht Johann Sebastian, sondern seinen zweiten Sohn. Wie kam es zu einer solch immensen Hochschätzung durch seine Zeitgenossen?
Zunächst sind hier seine Kompositionen zu erwähnen, und zwar in erster Linie diejenigen für Tasteninstrument. Bach lebte in einer Zeit des Übergangs, der sich neben anderem auch auf der Ebene der Instrumente wiederfinden läßt. Das am meisten verbreitete Tasteninstrument war bis hin zur Generation seines Vaters das Cembalo gewesen, dessen Ursprünge sich bis in das späte Mittelalter zurückverfolgen lassen. Doch kündigte sich zu C.P.E. Bachs Zeit der Siegeszug eines neuen Tasteninstrumentes an, das bis heute das am meisten verbreitete geblieben ist: das Klavier oder, im damaligen Sprachgebrauch, das Fortepiano. C.P.E. Bachs Konzert für Cembalo und Fortepiano Wq 47, eine höchst ungewöhnliche Kombination, dokumentiert diese Zeitenwende auf dem Gebiet des Instrumentenbaus. Genau in diesen Übergang fällt die Erfindung eines weiteren Tasteninstruments, das sich zumindest in Norddeutschland für kurze Zeit außerordentlicher Beliebtheit erfreute und C.P.E. Bachs Lieblingsinstrument wurde: das Clavichord. Dieses verglichen mit einem modernen Klavier recht leise, zum Spiel in den heimischen vier Wänden ideale und relativ günstige Instrument vereint den silbrigen Klang des Cembalos mit der Möglichkeit, laut und leise spielen zu können so wie auf einem Klavier. Viele von Bachs Kompositionen sind eigens auf die Möglichkeiten des Clavichords zugeschnitten. Vor allem seine Fantasien, die gemeinhin als diejenigen Werke angesehen werden, in denen sich seine kompositorischen Intentionen am deutlichsten zeigen, lassen sich darauf wohl am besten wiedergeben. Bei ihnen handelt es sich um faszinierende Stücke, die uns zum einen erahnen lassen, wie eine seiner Improvisationen, für die er berühmt war, sich ausnahmen, die sich durch scharfe Kontraste und abrupte Stimmungswechsel auszeichneten. Bach gilt als der prominenteste Vertreter einer Richtung in der Musik, für die sich neben anderen Bezeichnungen der Begriff der „Empfindsamkeit“ eingebürgert hat. Ihr literarisches Pendant findet diese Strömung etwa in Goethes Die Leiden des jungen Werther. Wie bei C.P.E. Bachs Fantasien handelt es sich hier um einen Gegenentwurf zum Ebenmaß und der Zurückhaltung, die die Aufklärung propagierte. Statt dessen stehen die Gefühle des Menschen ganz im Zentrum als wichtigste Triebfeder seines gesamten Tuns und Lassens, die sich weder beherrschen noch in ein System pressen lassen. Die Unvorhersehbarkeit des Verlaufs, bedingt durch die plötzlichen Stimmungsschwankungen, ist kennzeichnend für Bachs Fantasien, von denen diejenige mit der Nummer 67 im Wotquenne-Verzeichnis mit dem Titel C.P.E. Bachs Empfindungen versehen ist. Immer schon, zu allen Zeiten und an allen Orten, hatte die Musik auch eine emotionale Dimension besessen. Wenn Bach aber die Musik als „Sprache der Empfindung“ definierte, kündigt sich damit ein gänzlich neuer Musik- und Musiker-Typus in der Geschichte an, bei welchem dem emotionalen Gehalt vor allem anderen der Vorrang eingeräumt wird. Viele Komponisten und Theoretiker nach Bach sollten sich diese Ansicht zueigen machen und bis heute dürfte seine Sichtweise bei Musikliebhabern auf vollkommen ungeteilte Zustimmung treffen. Viele betrachten Musik als nichts anderes als ein Mittel des Ausdrucks, als eine Klangrede, die auf unser Gefühl abzielt.
Bachs Musik läßt zugleich die Schulung durch seinen Vater erkennen – trägt also vereinzelt für unsere Ohren barocke Züge – und weist zugleich auf die Epoche der Romantik voraus; mitunter meint man bereits eine Vorahnung von Beethovens Klaviermusik in Bachs Fantasien zu vernehmen, der ihn in der Tat auch sehr schätzte wie es auch Haydn und Mozart taten.
3. C.P.E. Bach und die Nachwelt
Angesichts seines starken Einflusses auf alle drei Komponisten, die die Wiener Klassik repräsentieren, ist es erstaunlich, wie schnell und gründlich C.P.E. Bachs Werk im 19. Jahrhundert in Vergessenheit geriet. Es dauerte bis zum Beginn der Alte-Musik-Bewegung im frühen 20. Jahrhundert, daß man ihn wieder zu entdecken begann. Zunächst war es sein Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, eine Klavierschule, die in zwei Teilen in den Jahren 1753 und 1762 erschien und die sich für die Interpretation Alter Musik als höchst ergiebige Quelle erwiesen hat. Darin beschreibt Bach neben anderem, wie man Melodien dem Geschmack seiner Zeit entsprechend verzierte, wie man einen bezifferten Baß spielte und wie man improvisierte. Das Verzeichnis von Trillern und anderen melodischen Ornamenten, das sich im Anhang befindet, kennt mittlerweile jeder Klavierschüler, der sich mit der Musik des Barock beschäftigt hat. Es ist in vielen Urtextausgaben enthalten. Wenn man also auch Bachs wichtige Rolle für das Musikleben seiner Zeit wieder würdigt, hat es doch noch bis zum Beginn des 21. Jh.s gedauert, bis man sich auch einer wissenschaftlich fundierten Neuausgabe seines Werkes annahm. Dies ist nun geschehen und zwar in emphatischer Weise: C.P.E. Bach ist einer der wenigen Komponisten, dessen Werk gegenwärtig vollständig, nämlich in Form einer kritischen Gesamtausgabe, herausgegeben wird. Diese Edition ist ein Gemeinschaftsprojekt des Packard Humanities Institute mit dem Bach-Archiv Leipzig, der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und der Universität Harvard.
4. C.P.E. Bach und die Tradition
Nicht nur seine Mit- und Nachwelt sollte von Bachs Wirken als Musiker profitieren, sondern auch die musikalische Tradition, und das heißt in diesem Zusammenhang: die Tradition so wie sie seine eigene Familie repräsentierte. Bach war sich der Tatsache bewußt, daß er in Gestalt des Nachlasses seines Vaters einen musikalischen Schatz sein eigen nannte. Anscheinend verstand er es in geschickter Weise, aus dem Bedarf nach der Musik Johann Sebastians Kapital zu schlagen. Jedenfalls trieb er Handel mit Abschriften von dessen Kompositionen und trug damit zum Weiterleben von dessen Werk bei, das bis zu seiner Wiederentdeckung im frühen 19. Jh. lediglich Eingeweihten bekannt war. Zu dem Bestand des Nachlasses, den C.P.E. Bach sorgfältig hütete, gehörten u.a. die Handschriften von Matthäus– und Johannespassion, Weihnachtsoratorium und h-Moll-Messe. Er sah sich also selber als Teil einer Tradition, der er sich verpflichtet fühlte, was insofern überrascht, als seine Werke sich strukturell stark von denen seines Vaters unterscheiden. Bei aller Modernität seiner eigenen Werke verteidigte er jedoch seinen verstorbenen Vater gegen Angriffe von Musikschriftstellern und setzte sich gegen nicht von ihm autorisierte Nachdrucke von dessen Werken zur Wehr. Das offizielle Bild seines Vaters, das er in seinem Nekrolog auf Johann Sebastian zeichnete, ist für viele Liebhaber von dessen Musik auch noch heute gültig. Darin beschreibt er ihn als einen Meister der Fuge und der komplexen Harmonik, dessen Werk von tiefem Ernst geprägt ist.
5. Zwischen den Zeiten
C.P.E. Bachs Werk wie auch sein Wirken als Musikschriftsteller und Musikalienhändler vereinen auf bemerkenswerte Weise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich. Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach unterrichtete ihn in der Komposition und dem praktischen Musizieren; sein eigenes Werk, das durch seine starke Expressivität von dem vieler seiner Zeitgenossen absticht, weist auf den Gefühlsüberschwang der nächsten Kulturepoche, der Romantik, voraus. Und schließlich bildet sein Versuch für heutige Musiker eines der wichtigsten Dokumente zur Aufführungspraxis der Musik des 18. Jahrhunderts. Daß Bachs Musik im 19. Jahrhundert als „bizarr“ und bestenfalls als ein Vorläufer zur Wiener Klassik angesehen wurde, tut seiner bedeutenden historischen Rolle keinen Abbruch. Musiker und Musikforscher haben in ihm mittlerweile eine höchst originelle und selbständige Persönlichkeit entdeckt, die den Vergleich mit seinen ungleich bekannteren Zeitgenossen nicht zu scheuen braucht. Es bleibt zu hoffen, daß sich diese Einsicht im Jubiläumsjahr ihren Weg in das breite Publikum bahnen wird.
Dr. Martin Knust
Alle Bilder: Wikipedia