von Gioacchino Rossini (1792-1868), Melodramma eroico in zwei Akten, Libretto: Gaetano Rossi nach Voltaire, UA: 6. Februar 1813 Venedig, Teatro La Fenice; tragiche Version: März 1813 Ferrara, hier aufgeführt
Regie: Jacques Osinski, Bühne/Kostüme: Christophe Ouvrard, Licht: Catherine Verheyde
Dirigent: Enrique Mazzola, Orchestre Philharmonique de Radio France, Chor des Théâtre des Champs-Elysées
Solisten: Marie-Nicole Lemieux (Tancredi), Patrizia Ciofi (Amenaide), Antonino Siragusa (Argirio), Christian Helmer (Orbazzano), Josè Maria Lo Monaco (Isaura), Sarah Tynan (Roggiero)
Besuchte Aufführung: 19. Mai 2014 (Premiere)
Im Geburtssjahr Richard Wagners und Guiseppe Verdis 1813 wurde diese Oper in Venedig und Ferrara uraufgeführt.
Mag sein, daß die beschwingte, oft tänzerische Musik Rossinis es uns manchmal erschwert, die Tragik seiner Opere serie ernst zu nehmen. In Tancredi hingegen hat der Komponist einige Szenen kreiert, vor allem das Finale des ersten Akts, in dem die Solisten und der Chor mit einem Aufschrei, diesmal auch in der Musik eine unerhörte Dramatik schaffen. Fast ebenso stark ist die Wirkung in Amenaides zweiter Kerkerszene im zweiten Akt, wieder mit Chor. Die im März 1813 für Ferrara geschriebene Version, hat – statt des ursprünglichen lieto fine (happy end) – ein tragisches Ende. Diese Version wurde erst 1974 wiederentdeckt.
Man muß sich vergegenwärtigen, wie überwältigend der Eindruck gewesen sein mag bei einem Publikum, das die Wahnsinnsszene aus Donizettis Lucia di Lammermoor (1835) noch nicht kannte, geschweige denn die dramatischen Szenen aus Verdis Opern. So turbulent und lautstark das Finale des ersten Akts, so minimalistisch ist das Finale des zweiten – ein Pianissimo -Trio mit Chor beim Tode Tancredis. Hat Verdi vielleicht an diese Szene gedacht, als er vierzig Jahre später das ergreifende Finale seiner La Traviata komponierte? Jedenfalls kannte Wagner die Oper, oder zumindest die Cabaletta des Tancredi Di tanti palpiti, di tante pene aus dem ersten Akt, hat er sie sich doch als Parodie im dritten Akt der Meistersinger zu eigen gemacht.
Kurzinhalt
Syracus 1005. Um Sizilien gegen die einfallenden Sarazenen zu einigen, will Argirio seine Tochter Amenaide mit seinem Widersacher Orbazzano vermählen. Doch Amenaide weigert sich, denn sie liebt Tancredi, dessen Familie verbannt und geächtet ist. Sie schickt einen Brief an den Geliebten, mit der Bitte um Hilfe. Doch der Brief wird von Orbazzano abgefangen, der öffentlich erklärt, ihr Brief sei an den Sarrazenenkönig gerichtet gewesen, und Amenaide müsse wegen Hochverrats zum Tode verurteilt werden. Um ihren Geliebten nicht zu verraten, kann diese sich nicht rechtfertigen. Denn unerkannt ist Tancredi nach Syracuse zurückgekommen und hat sich Argirio zum Kampf gegen die Sarrazenen zur Verfügung gestellt. Aber als er sieht, daß seine Geliebte in den Kerker geworfen wird, fordert er Orbazzano zum Zweikampf heraus und tötet ihn. Doch glaubt er, von Amenaide betrogen worden zu sein, und sie kann ihn nicht vom Gegenteil überzeugen. Tancredi führt die Truppen Agirios in die Schlacht und besiegt die Sarrazenen, wird aber tödlich verwundet. Nachdem er die Wahrheit erfahren hat, stirbt er, versöhnt mit Amenaide, in ihren Armen.
Aufführung
Für Jacques Osinski und sein Team spielt die Handlung in hohen, modernen von Art-déco-Lustern kalt beleuchteten Konferenzsälen, ähnlich denen eines multinationalen Konzerns oder eines Ministeriums. Als Mobilier Chrome-und-Leder-Sessel, Klappstühle oder ein pompöser Mahagoni-Schreibtisch. Amenaides Kerkerzelle sieht aus wie der Verhörraums in einer SOKO-Reihe. Alles atmet die Atmosphäre eines totalitären Regimes, weder schön noch häßlich. Die Kostüme für die Herren sind Straßenanzug mit Krawatte oder Kampfanzug mit Stiefeln, für die Frauen einfache farblose Kleider und ein langes Hochzeitskleid für Amenaide. Wichtig ist, daß die Inszenierung wenigstens nicht von der Handlung oder der Musik ablenkt. Und das tut sie nicht, sie bleibt neutral.
Sänger und Orchester
Patricia Ciofi singt Amenaide, als wäre die Rolle für sie geschrieben, mit weicher reiner Stimmführung, großer Feinfühligkeit und streng kontrolliertem Vibrato. Mühelos durchläuft ihre Stimme die oft schwierigen Koloraturen. Hinreißend bewegend in der Kerkerszene No, che il morir non è si barbaro per me – doch nein, der Tod ist mir nicht so unerträglich vom Englischhorn begleitet (2. Akt, 4. Szene). Schade nur, daß sie die Spitzentöne hin und wieder etwas forciert. Marie-Nicole Lemieux mit Bart und in voller Uniform ist ein erstaunlich glaubhafter Tancredi, fast könnte man sagen ein Heldentenor. Ihre Contralto-Stimme ist sowohl in der Höhe wie vor allem in der Tiefe bewunderswert, gewaltig in den dramatischen Szenen und sensible in den lyrischen. Antonino Sirgusa singt den Argirio mit etwas nasaler Tenorstimme, der leider die nötige Beweglichkeit fehlt, um den Melismen gerecht zu werden, die diese Oper auszeichnen. Christian Helmers wohlklingender, jugendlicher Baß verkörpert den Orbazzano. Josè Maria Lo Monaco und Sarah Tynan vollenden das vorzügliche Ensemble. Der gut einstudierte Chor unterstützt kraftvoll die Solisten. Enrique Mazzola ist ganz in seinem Element und dirigiert Solisten, Chor und Orchester mit Schwung und Hingabe.
Fazit
Diese erstaunliche, frühe opera seria Rossinis hatte das Théâtre des Champs Elysées nun zum Abschluß ihres diesjährigen Rossini Festivals auf die Bühne gebracht. Die musikalisch ausgezeichnete Aufführung wurde mit begeistertem Applaus bedankt.
Alexander Jordis-Lohausen
Bild: Vincent Pontet-WikiSpectacle/Théâtre des Champs-Elysées
Das Bild zeigt: Marie-Nicole Lemieux (Tancredi), Patrizia Ciofi (Amenaide), Antonino Siragusa (Argirio), stehend