Les Grands Motets – Die großen Motetten von Rameau und Mondonville
von Jean-Philippe Rameau (1683-1764)
Quam dilecta tabernacula tua (Psalm 83, In convertendo Dominus captivitatem Sion (Psalm 125, 1751)
Jean-Joseph Cassanéa Mondonville (1711-1772)
Dominus regnavit (Psalm 92, 1735), In exitu Israël de Aegypto (Psalm 113, 1755)
Dirigent: William Christie, Chor und Orchester Les Arts Florissants
Solisten: Rachel Redmond (Dessus – Sopran), Katherine Watson (Dessus), Reinoud van Mechelen (Haute-contre – hoher Tenor), Cyril Auvity Taille –Tenor), Marc Mauillon (Basse-taille – Bariton), Cyril Cosanzo (Basse)
Besuchte Aufführung: 27. Juli 2014 (Basilique Notre-Dame)
Die großen Motetten (grands motets) haben Michel-Richard Delalandes Versailler Motetten vom Beginn des 18. Jahrhunderts zum Vorbild und sie blieben Vorbild für alle Komponisten späterer grands motets. Die Struktur: Selbständige Passagen von Solo-Arien (récits), vokalen Duos und Trios, Chöre sowie orchestrale Ritornelle und Symphonien wechseln miteinander ab. Nach 1725 wurde die Motette zum kunstvollen Konzertstück im Pariser Concert Spirituel und im Concert Français. Vielleicht könnte man sie mit kürzeren Kantaten deutscher Komponisten, etwa eines Heinrich Schütz des 17. Jahrhunderts, vergleichen.
In der Struktur der grands motets im 18. Jahrhundert kam es zu einigen Veränderungen: man fügte Bläser- und länger Orchesterteile hinzu. Hier machten sich Einflüsse der Opern von Lully und Campra bemerkbar, etwa schnelle Violinfigurationen bei den Chorpartien. Die Sologesänge sind oft gestaltet wie eine italienische Dacapo Arie. Nach 1730 wurden diese grands motets kaum noch für kirchliche Zwecke, sondern eher für den Konzertgebrauch geschrieben. Das trifft vor allem auf Rameaus grands motets zu.
Das Konzert
Das Konzertprogramm bestand aus grands motets von Mondonville und Rameau. Die Großen Motetten des jüngeren Jean-Joseph Cassanéa Mondonville waren für den Rezensenten eine Überraschung. Auch in Frankreich ist Mondonville erst seit wenigen Jahren bekannt. Beide Motetten halten strukturell und vom Klangeindruck durchaus den Vergleich mit Kantaten von Johann Seb. Bach aus. Mondonvilles Naturbeschreibung, etwa das Zurückweichen des Meeres bei Israels Flucht aus Ägypten (mare vidit, et fugit – das Meer sah es und floh) erinnert ein wenig an Passagen Vivaldischer Konzerte (Jahreszeiten).
Und eine solch wirkungsvolle Musik lag über 300 Jahre unentdeckt in der Pariser Nationalbibliothek? Was wird man noch finden? Den Entdeckern und Herausgeben der Partituren, William Christie und Mitgliedern seines Orchesters Les Arts Florissants, ein großes Dankeschön dafür!
Die Sänger entstammen größtenteils Christies Akademie für junge Sänger (Jardin des Voix – Garten der Stimmen) aus Caen (Normandie). Sie sind „erste Sahne“. Ihre Intonation, Atemtechnik, Artikulation, Flexibilität der Stimmregister, die Akkuratesse der Triller, Verzierungen und Koloraturpassagen, das Legato, die dynamische Behandlung der Gesangspartien kann man nur mit vollkommen bezeichnen. Es war ein Lehrbeispiel für Gesang auf höchstem Niveau! Das gilt für alle Solisten und natürlich auch für den Chor.
Ein weiteres Moment sei aufgezeigt: das ist der „Sound“ von Christies Orchester Les Arts Florissants, das er seit 1979 stetig aufgebaut hat. Der volle Klang des Orchesters ist von einer solchen Sanftheit, ja douceur (Zartheit), der seinesgleichen sucht. Es wird ja häufig vom „deutschen Orchesterklang“ gesprochen, etwa bei der Dresdner Staatskapelle. Christies Orchester bringt einen Klang zustande, der aus der Wirklichkeit in eine unendlich schöne Welt entrückt! Auffallend die beiden Oboen oder die beiden Flöten oder die Fagotte, die dem Orchester einen unverwechselbaren Charakter geben.
Die grands motets von Rameau sind ein wenig mehr bekannt und wirken dennoch frisch und unverbraucht. Sie zeigen den genialen Franzosen in seinem ganzen Können und stehen keineswegs hinter seinen besser bekannten Opern zurück. Leider hört man diese Kompositionen in Deutschland nur sehr selten.
Zum Ende des Konzerts gibt es noch eine Überraschung. Christie bedankt sich für den überaus herzlichen Empfang, den das Publikum ihm zu Beginn, während und zum Abschluß bereitet hat (dieses Jahr war er zu dreißigste Mal beim Festival von Beaune) mit vier (!) Zugaben. Wie erfahrene Kenner seiner Konzerte berichteten, gibt oder gab William Christie nie Zugaben. Und hier waren es sogar vier!
Zum ersten erklärte er: Wir spielen Ihnen hier den bei Castor und Pollux gestern nicht gebrachten Eingangschor ‚Que tout gémisse – alles soll klagen‘ (Grabgesang für den toten Castor. Rameau hatte ihn aus der ersten Fassung von 1737 in der zweiten Fassung von 1754 nicht übernommen). Claude Debussy schrieb darüber: Gleich von den ersten Takten des Spartanerchors ist man ergriffen und gerührt von dieser tragischen Stimmung.
War die Darbietung durch Les Arts Florissants der großen Traurigkeit angepaßt, so zeigte die zweite Zugabe mit Katherine Watson (Phébé) und Cyril Auvity (Pollux) im Duett (4. Akt, 2. Szene) eine untadelige, stimmliche Darstellung. Als letzte Zugabe wiederholte Christie die umwerfenden „Beschreibung“ des Meers (Mare vidit, et fugit) aus In exitu Israël von Mondonville. Unnachahmlich, wie dieser für uns so unbekannte Barockmeister durch piano – forte das zurückweichende Wasser des Meers lautmalerisch nachahmt.
Doch davor gab William Christie als dritte Zugabe eine Demonstration des unvergleichlich subtilen Klangbildes seiner Arts Florissants mit einem Orchesterstück aus dem Ballett Les Indes galantes. Dieses Rameau‘sche Musikstück, voller Wohllaut und Ruhe, verlieh dem unvergeßlichen Abend den gebührenden Schlußakzent.
Dr. Olaf Zenner
Bild: Ae Lee Kim
Das Bild zeigt: William Christi (im weißem Jackett), Chor und Orchester Les Arts Florissants und Solisten