von Leoš Janáček (1854 – 1928), Oper in 3 Akten, Libretto vom Komponisten nach Fjodor M. Dostojewskij: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1862), U.A.: 12. April 1930, Nationaltheater Brünn
Regie: Barrie Kosky, Bühne/Kostüme: Katrin Lea Tag, Licht: Susanne Reinhardt, in tschechischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Dirigent: Wolfgang Bozic, Chor: Dan Ratiu, Niedersächsisches Staatsorchester Hannover, Herrenchor der Staatsoper Hannover
Solisten: Alexandr Petrovič Gorjančikov (Jin-Ho Yoo), Aljeja (Janos Ocsovai), Laka Kuzmič alias Filka Morozov (Robert Künzli), Der große Sträfling (Vojtěch Filip), Der junge Sträfling (Stefan Zenkl), Der Platzmajor (Frank Schneiders), Der alte Sträfling (Edgar Schäfer), Skuratov (Ivan Turšić), Čekunov (Wolfgang Newerla), Der betrunkene Sträfling (Roland Wagenführer), Der Koch (Peter Michailov), Der Schmied (Valentin Kostov), Der Pope (Keun-Sung Yook), Čerevin (Tadeusz Galczuk), Šapkin (Jörn Eichler), Šiškov (Brian Davis), Stimme aus der Ferne (Latchezar Pravtchev), Der Adler (Theo Hapke)
Besuchte Vorstellung: 15. März 2009 (Premiere)
Kurzinhalt
Janáčeks düstere Oper hat keine Handlung im eigentlichen Sinne. Dostojewski hat ja selbst vier Jahre in einem sibirischen Straflager verbracht und aus dieser eigenen Erfahrung heraus werden wir gnadenlos mit Momentaufnahmen und Schlaglichtern des deprimierenden und eintönigen Gefängnisalltags konfrontiert. Ein neuer Häftling, ein feiner Herr, ein „Politischer“, wird zur Begrüßung im Gulag ohne erkennbaren Anlaß erstmal gründlich verprügelt. Ausweglosigkeit und brutale Willkür prägen das Einerlei des Daseins in Haft. Die Sträflinge erzählen sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten. Frust und aufgestaute Sexualität explodieren in Ausbrüchen der Gewalt, wechselnd mit stumpfer Resignation. Höhepunkte im Lagerleben sind gelegentliche Theaterstücke, die den Insassen als Ventil dienen, ihnen ihre mißliche Lage aber sozusagen noch mal extra klar machen. Die Oper wirkt „unabgeschlossen“ im ausweglosen Rhythmus der Zwangsarbeiter, war aber von Janáček genauso gedacht. Es gibt kein Happy-End, aber diese Oper regt den Betrachter unweigerlich zum Nachdenken an: Ist der Sinn des Strafvollzuges eigentlich, letztendlich Rache am Fehlbaren, manchmal auch am Unliebsamen – wir denken an den politischen Gefangenen – zu üben, oder zeigt sich die einer Gesellschaft innewohnende Humanität nicht vielmehr darin, daß sie auch gegenüber dem Außenseiter, ja sogar gegenüber dem Verbrecher, human reagieren kann?
Aufführung
Das ganze „Geschehen“ spielt sich etwa eineinhalb Stunden lang auf einem schräggestellten Tableau ab. Die gängigen Klischees von Stacheldraht und Gittern kommen nicht zum Tragen, aber man kann dieses Tableau um nichts in der Welt verlassen – das ist die unmißverständliche Botschaft! Die Aufseher oder auch Peiniger der Gefangenen sind von diesen optisch so gut wie nicht zu unterscheiden, ebenfalls auf ihre Art Gefangene eines unmenschlichen Systems. Da fällt einem die Geschichte vom Affen im Zoo ein: Dem Affen erscheinen wir als diejenigen, die hinter Gittern sind.
Sänger und Orchester
Die Inszenierung in Bühne und Kostümen von Katrin Lea Tag stammt vom Australier Barrie Kosky, der an der Wiener Staatsoper einen umstrittenen Lohengrin gemacht hat, und in Hannover nichts Geringeres als den RING vorhat. Wolfgang Bozic am Pult des Niedersächsischen Staatsorchesters hat Janáčeks nicht ganz leicht zu verdauende dramatisch-fesselnde Musik mit Macht und Emotionalität wiedergegeben. Glänzend der Herrenchor, einstudiert von Dan Ratiu. Alle 18 Hauptdarsteller zu besprechen, würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, so kann man nur ein paar herausragende Darsteller würdigen, ohne an der großartigen Gesamtleistung aller irgend etwas schmälern zu wollen. Hervorheben möchte ich Jin-Ho Yoo als politischer Häftling Gorjančikow, aber auch Janos Ocsovai als (männliche) Nutte Aljeja. Besondere Leistungen auch von Robert Künzli als Kuzmič alias Morozov und immer wieder große Klasse Frank Schneiders als Platzmajor.
Fezit
Viel Beifall für alle, heute auch mal für’s Regieteam.
Dr. Rüdiger Ehlert
Bild: Thomas M. Jauk