OPERAPOINT nahm 2013 und 2014 an Aufführungen des Festivals in Beaune, der „Sommer-Hauptstadt des Barock“ teil (s. OPERAPOINT; Heft 4, 2013 und Heft 4, 2014). Diese Bezeichnung ist berechtigt. Denn in den 33 Jahren waren hier bedeutende Orchester und deren künstlerische Leiter, u.a. William Christie, Christoph Rousset oder René Jacobs, tätig. Dieses Jahr nun hat man dem Titel eines „Festival des Barock“ die Ergänzung „und der Romantik“ (s. Überschrift) beigefügt. Die Missa Solemnis von Ludwig van Beethoven, gespielt auf authentischen Instrumenten, machte den Anfang.
Von Anfang an hat man – in bewußter Ökonomie – nur an vier aufeinanderfolgende Wochenenden im Juli des jeweiligen Jahres das Festival abgehalten. Beim vierten Wochenende war OPERAPOINT dabei.
Was im Großen und Ganzen die französischen Musikfestivals formal von denen in Deutschland unterscheidet ist die Tatsache, daß sie sich – mit einigen Ausnahmen, z. B. des Festivals in Montpellier, das France Musique ausrichtet –meist auf die Stadt beschränkt, wo es stattfindet. In den letzten Jahren sind allerdings viele neue Festivals hinzugekommen, die auch meist im jeweiligen Stadtbezirk oder in der engeren Umgebung bleiben.
In Beaune gibt es zwei Aufführungsstätten: die Cour des Hospices (der Hof der Hospizgebäude), die Nicolas Rolin 1443 gründete. Von Anfang an war es ein Krankenhaus, das bis in die 1970 Jahre genutzt wurde. Heute dient es als Museum (hier findet sich das weltbekannte Gemälde Das Jüngste Gericht von Rogier van der Weyden). Weitere Gebäudeteile werden noch als Altenheim genutzt.
Der zweite Aufführungsort ist die Kathedrale Notre-Dame. Sie ist eines der Hauptwerke der Romanik in Burgund. In der Nacht, meist in den Pausen der Konzerte, taucht man die Front von Notre-Dame in die buntesten Farben und läßt dabei auch die Konturen des gotischen Vorbaus deutlicher hervortreten (s. Titelbild dieses Hefts ). Kaum erwähnenswert, da allgemein bekannt, ist der berühmte Burgunder Wein, der im Umland seit 2000 Jahren angebaut wird.
Il Trionfo della Divina Giustizia – Der Triumph der Göttlichen Gerechtigkeit
von Nicolo Porpora (1686-1768), Oratorium in zwei Teilen, Libretto: unbekannter Dichter, UA: 4. April 1716 Neapel, im Palazzo San Luigi, heute zerstört
Dirigent: Thibault Noally (auch erste Violine), Delphine Galou (Maria, Alt), Blandine Staskiewicz, Mezzosopran), Emmanuelle de Negri (Maddalena, Sopran),
Martin Vanberg (Johannes, Tenor)
Aufführung: 24. Juli 2015 (Basilique Notre-Dame)
Dieses Oratorium gehört zu den rund eindutzend Oratorien des neapolitanischen Meisters, der eher als Opernkomponist bekannt ist und der Georg Friedrich Händels Konkurrenz in London machte. Englische Adlige hatten ihn nach London eingeladen, wo er eine neue Oper, die sogenannte Adelsoper gegenüber dem Covent Garden, wo Händel residierte, einrichtete. Nach anfänglichem Erfolg mußte er 1737 für seine Oper Konkurs anmelden, begab sich nach Dresden und später nach Wien. Er war einer der geschätztesten Gesangslehrer der damaligen Zeit und unterrichtete viele weltbekannte Kastraten, u.a. Farinelli, Caffarelli oder Salimbeni. Joseph Haydn wurde von ihm in Komposition unterrichtet, und Haydn sprach selbst wiederholt davon, daß er beim berühmten Porpora die Grundlagen der Komposition gelernt habe. Leider bekam Porpora bei einem Fürsten oder einer kirchlichen Institution nie eine Anstellung. Das ist wahrscheinlich der Grund, daß wie von ihm viel mehr Opern als Oratorien besitzen.
Beim Oratorium Il Trionfo della Divina Giustizia – Der Triumph der Göttlichen Gerechtigkeit kommt Porpora mit nur vier Solisten und einem Streichorchester aus, die er lediglich an einer Stelle mir einer Trompete ergänzt. Drei der Personen Maria, die Mutter Christi sowie Maddalena und Johannes, sind biblische Gestalten. Die Göttliche Gerechtigkeit – La Divina Giustizia ist eine personifizierte Gestalt, die Erläuterungen zum Geschehen und Tröstungen für Maria ausspricht.
Im gut zusammengestellten Programmheft ist der italienische Text mit nebenstehender französischer Übersetzung abgedruckt, so daß man der Handlung gut folgen kann.
Das Libretto eines anonymen Textdichters hat die Form eines theologischen Dialogs. Die Göttliche Gerechtigkeit erinnert an Gleichnisse des Alten Testaments (die Sünde Adam und Evas, die Ermordung Abels) und gibt die Begründung, warum Jesus den Tod am Kreuz erleiden mußte. Sie ergänzt dies mit Worten großer Anteilnahem am Schmerz und an der Trauer Marias wegen des Martyriums ihres Sohns.
Weiterhin werden die Hauptereignisse der Leidensgeschichte wie Geißelung und Kreuzigung von Maddalena und Johannes in Worten beschrieben, wobei das Leidensgeschehen unsichtbar bleibt. Auch diese beiden Gestalten trösten die in Tränen aufgelöste Schmerzensmutter.
Eröffnet wird das Oratorium mit einer Ouvertüre in französischer Form. Der erste Teil wird gravitätisch, der zweite Teil in schnellem Tempo gekonnt dargeboten. Der dritte und letzte Teil wiederholt z.T. Motive des ersten Teils. Das verlangsamte Ende in trauerndem Moll leitet die Leidensgeschichte ein. Das aus sehr jungen Musikern bestehende Streichorchester zeigt sich in elastischer und eleganter Spiellaune. Die Begleitung der Sängerinnen und Sänger bleibt durchweg gut unterstützend und biegsam. Die Leitung von Thibault Noally, der virtuos einige Soli auf seiner ersten Violine vorträgt, ist nie aufdringlich und bleibt mit sparsamer Bewegung zurückhaltend, was besonders bei den sehr raschen Tempi vieler Sätze angenehm auffällt. Ein zu stark gestikulierender Dirigent lenkt nämlich sehr vom Hören ab!
Gleich zu Anfang setzte der Chor mit den hinweisenden Worten ein: per placar d’un Dio lo sdegno – um einen erzürnten Gott zu besänftigen, mußte ein Gott für den Menschen den Tod erleiden. Der nur aus den vier Frauen und einer Männerstimme bestehende Chor füllte dennoch diese Kategorie genügend aus. Sofort tritt die Göttliche Gerechtigkeit auf und gibt in blendendem Belcanto die Worte Non più superbo – der hochmütigen Hölle vergeht ihr Lachen, wenn einst er im großen Jubel mit einem traurigen und verschleierten Blick ihre [der Menschen] Vergehen beweint. Blandine Staskiewicz wird mit ihrem lyrischen Mezzo den Feinheiten der rasenden Koloraturen durchaus gerecht. Allein ihre Wortverständlichkeit bleibt ein wenig auf der Strecke. Jedoch ist ihre Intonation makellos. Auch die anderen Solisten zeigen nur eine mäßige Artikulation, während die Gestaltung der Gesangspartien nirgendwo Schärfen oder Tonungenauigkeiten aufweisen.
Nacheinander treten Maria als von Schmerzen gebeugte Mutter (Delphine Galou) sowie Maddalena (Emmanuelle de Negri) und Johannes (Martin Vanberg) auf, um zu klagen und schließlich das Leiden Christi am Kreuz in eindrucksvollen Worten zu beschreiben. Alle versuchen, einschließlich der Göttlichen Gerechtigkeit, die in Tränen aufgelöste Maria zu trösten. Außerordentlich bemerkenswert war die genaue rhythmische Darstellung. Die Lebhaftigkeit resultierte auch aus den tänzerischen Elementen, die viele der Arien aufwiesen. Aus diesem Grund wurde die durch die Molltonarten drohende Langeweile schon im Keim erstickt.
Der Text, der wirkungsvoll das Leidensgeschehen nachzeichnete, zeigt eine anschauliche Darstellung mit gereimten Sechs- bzw. Achtsilbern. Beim aufmerksamen Lesen des Textes ist das Vergnügen nicht weniger groß wie beim Hören der Musik. Es ist erstaunlich, wie vor fast 300 Jahren bei der Beschreibung der Leidensgeschichte, keine „süßlichen“ Texte aufkommen. Ebenso ist die Tatsache, einen solchen dramatisch fesselnden Text zu erfinden, der die Seelenlage der beteiligten Personen anschaulich schildert, bewundernswert und sucht in der Gegenwart seinesgleichen.
Einschließlich des Dirigenten Thibault Noally bezeugen alle Solisten ein großes Engagement für diese außerordentliche formvollendete Musik Porporas. Großer Applaus der aufmerksamen Zuhörerschaft.
Aufführung: 25. Juli 2015 (Basilique Notre-Dame)
Missa Solemnis D-Dur Op. 123
von Ludwig van Beethoven (1770-1827) UA: 17. April 1824, St. Petersburg, deutsche Erstaufführung: Mai 1827
Dirigent: Jean-Christophe Spinosi, Ensemble Matheus et Choeur Mélisme(s), Choreinstudierung: Gildas Pungier
Solisten: Anna Kasyan, Sopran, Clémentine Margarine, Mezzosopran, Julien Behr, Tenor, Luigi De Donato, Baß
Aufführung: 25. Juli 2015 (Basilique Notre-Dame)
Beethovens Spätwerk ist technisch ein ungemein schwieriges Werk. Der Meister schrieb diese Messe zur Inthronisation seines Schülers, Freundes und Gönners, Erzherzog Rudolf, zum Erzbischof von Olmütz (nahe von Brünn), damals Böhmen, heute Tschechien. Er begann die Komposition 1818. Doch die einzelnen Sätze gerieten ihm beim Komponieren immer länger, so daß er die Messe erst 1822 beendete. Gleichzeitig arbeitete Beethoven an der Neunten Sinfonie und an den Diabelli-Variationen.
Schon immer wurde viel darüber gerätselt, welche Beziehung Beethoven zur Religion gehabt hätte. Im Programmheft des Festivals bekennt sich der Autor Jean François Labie in seiner profunden Abhandlung zur starken Religiosität Beethovens. Eigentlich ergibt sich dies auch aus Beethovens eigenen Worten, die er der Komposition hinzufügte: es sei ihm ‚bei seiner Komposition Hauptsache gewesen, sowohl den Singenden als [auch] Zuhörenden religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen‘ [andauern zu lassen]. Wie kann man dann seine Beziehung zur Religion bezweifeln? Auch der tiefe Ernst und die dem Text genau entsprechende Musik zeugen davon.
Die Instrumentalisten spielte auf authentischen Instrumenten, die sie gut zu traktieren wußten, was vor allem die Hornisten (es gibt vier Hörner) betraf. Die Tempi, die Dirigent Jean-Christoph Spinosi wählte, entsprachen durchweg den Vorschriften, wenn auch bisweilen die langsamen Sätze ein wenig zu behäbig daherkamen. Er leitete den Chor äußerst dynamisch, doch einige Male wurde das Forte ein wenig übertrieben. Die Solisten schlugen sich gut. Allerdings fiel das starke Vibrato der Sopranistin Anna Kasyan ein wenig aus dem Rahmen. Das Orchester übertönte auf lange Strecken oft die Solisten, deren Wortverständlichkeit zudem nicht zum Besten war. Die Leistung wurde durch die Begeisterung aller Beteiligten und durch deren Engagement bestimmt, so daß das Gesamtergebnis – gemessen an den großen Schwierigkeiten des Werkes – alle zum begeisternden Schlußbeifall veranlaßte.
Dr. Olaf Zenner
Bilder: Ae Lee Kim