Arnold Schönberg Kammersinfonie op. 9, Pierre Boulez Notations I– IV (1980)
Anton Bruckner, Sinfonie Nr. 4 Es-Dur Die Romantisch
Dirigent: F.-X. Roth, Gürzenich-Orchester Köln, Antrittskonzert des neuen GMD François-Xavier Roth
Besuchte Aufführung: 8. September 2015
„Kann er was?“ Diese Frage stellte der Komponist Franz Schubert jedem, der zum Kreise jener musikalisch, künstlerisch und geistig Interessierten, die sich um ihn und seine Freunde scharten, hinzustoßen wollte. Laut ausgesprochen mag sie nicht besonders höflich klingen, aber ging sie – Hand aufs Herz – nicht manchem Zuhörer vor dem Antrittskonzert des neuen Generalmusikdirektors und Chefdirigenten des Gürzenich-Orchesters, François-Xavier Roth, durch den Kopf?
Roth, geboren 1971, ist der Sohn von Daniel Roth, dem Titularorganisten von Saint-Sulpice in Paris mit Orgelprofessuren in Marseille, Straßburg, Saarbrücken und Frankfurt am Main. François-Xavier Roth leitet seit 2011 das SWR-Symphonieorchester Baden-Baden und Freiburg, und ist Begründer des Orchesters Les Siècles, einem Ensemble, je nach Werk und oft auch im selben Konzert, sowohl auf modernen als auch historischen Instrumenten spielt.
Am Dienstag, dem 8. September wiederholte er sein Antrittskonzert vom vorigen Sonntag (dem 6.9.) in der Kölner Philharmonie, mit dem er sich als Nachfolger von Markus Stenz als neuer Chefdirigent des Gürzenich-Orchesters dem rheinischen Publikum vorstellte. Die Programmauswahl der Stücke befremdet zunächst. Schönberg und Boulez in einem Konzert mag ja angehen, aber dann auch noch Bruckner? Auf den ersten Blick irritiert eine solche Programmzusammenstellung.
Das Kalkül, klassische und zeitgenössische Moderne mit traditioneller Romantik zu kombinieren, ging jedoch auf, wenn auch nicht ganz perfekt. Roth wollte offenbar kein typisches „Orchesterstückprogramm“ präsentieren, sondern die Besetzungsvielfalt und damit auch die Flexibilität des Orchesterapparates demonstrieren. Leider ist der Saal der Kölner Philharmonie für die Kammersymphonie von Schönberg klanglich nicht geeignet, weil die Form der Bühne und des Raums den Klang von Streichern dämpft, den der Bläser jedoch verstärkt. Außerdem ist der Saal zu groß für kleinere Besetzungen. Der intime Klang der Solostreicher wurde besonders in den Tuttipassagen von den Bläsern völlig zugedeckt und auch sonst war die Klangbalance empfindlich gestört, wodurch der vom Komponisten fein ausgehörte, expressive Klang dieses Stücks etwas Penetrantes bekam. Trotzdem hatten besonders die Passagen der 1. Violine, die manchmal hoch über den Bläsern schwebte, einen ganz eigenen, herben, klanglichen Reiz. Insgesamt jedoch hätte das Werk in seiner Bearbeitung für normales Orchester höchstwahrscheinlich besser gewirkt.
Als nächstes stand die von Boulez selbst erstellte Neufassung seiner Notations für großes Orchester auf dem Programm. In ihrer ursprünglichen Fassung für Soloklavier aus dem Jahr 1945 umfaßt dieser Zyklus 12 Stücke von je 12 Takten Länge, welchen alle dieselbe 12-Tonreihe as-b-es-d-a-e-c-f-cis-g-fis-h zugrunde liegt. Der Komponist sah sie selbst als sein erstes vollgültiges Werk an. 1978 bearbeitete er die ersten vier Stücke für großes Orchester und ergänzte sie später noch um das siebte Stück. François-Xavier Roth führte den Zyklus in der von Boulez selbst vorgeschlagenen Reihenfolge I, VII, IV, III, II auf, die in erster Linie dramaturgisch begründet ist, weil sich so bewegtere mit ruhigeren Sätzen abwechseln.
Roth überzeugte in diesem Werk als Dirigent voll und ganz und führte das Orchester mit souveräner Hand durch das klanglich und rhythmisch schwierige Notendickicht. Gerade in den raschen Stücken IV und II zeigte er eine bewundernswerte Sicherheit im Timing und schaffte es so, den zwingenden Puls der Werke überzeugend zu vermitteln. In den langsamen Sätzen I, VII und III erreichte er hingegen eine wunderbar gut ausgehörte Klangbalance im großen Orchesterkörper.
Leider sind gerade diese Sätze bei aller Farbenpracht als Kompositionen nicht ganz überzeugend, da zu lang geraten. Der Reiz des ursprünglichen Klavierzyklus liegt in der knappen Konzentriertheit des kompositorischen Materials, was die raschen Sätze auch in der großen Orchesterbesetzung wiedergeben können. Bei den langsamen Sätzen (mit Ausnahme von I) „zerfließt“ dagegen die Form, da die Art ihres musikalischen Satzes und ihrer Klangentwicklung der Formdramaturgie entgegenläuft.
Packend und in keinem Augenblick langweilig wurde Roths Interpretation der 4. Symphonie von Anton Bruckner. Hier konnte er erneut sein untrügliches Gespür für Tempogenauigkeit und Rhythmik unter Beweis stellen, das zusammen mit der dynamisch präzise abgestuften Orchesterführung ein ungemein plastisches, differenziertes Klangbild ergab. Bruckner symphonischer Riesenbau wurde mit unfehlbarer, mitreißender Stringenz und rhythmischer Energie von der ersten bis zur letzten Note gestaltet, die formalen Übergänge und Tempowechsel harmonisch abgefedert. Einzig am Beginn des Kopfsatzes geriet der erste Einsatz des Horns zu früh und zu laut. Auch waren die Triolen im ersten Satz generell etwas zu rasch, wodurch sie an rhythmischer Wucht und Energie verloren. Im letzten Satz, wo sie erneut eine prominente Rolle spielen, war dieses Manko jedoch wieder behoben.
Umgekehrt zeigte diese gelungene Interpretation jedoch auch, mit welcher Präzision Bruckner die monumentalen Steigerungen des Werkes aufbaute und wie zwingend seine Rhythmen wirken. Hier legte der Dirigent eine überraschende Parallele zwischen Boulez und Bruckner frei: die rhythmische Präzision ihrer Kompositionen. Dem aufmerksamen Zuhörer eröffnete sich an dieser Stelle auch das Kalkül der Programmzusammenstellung: Schönbergs expressive, polyphone Linienführung und Boulez rhythmische Energie und klangliche Tiefe fanden ihre Synthese in Bruckner, welcher sowohl über Polyphonie und Expressivität, als auch rhythmische Verve und eine ausgefeilte, hierarchisch gestaffelte Klangarchitektonik verfügt. So erfüllte am Ende, obwohl das Experiment „Kammersymphonie in Originalbesetzung“ eher als gescheitert angesehen werden muß, die auf den ersten Blick so aparte Programmzusammenstellung doch ihren Sinn.
Und um die eingangs erwähnte Frage („kann er was?“) zu beantworten: Ja, aus Sicht des Verfassers kann er was und kann er viel! Auch die Musiker des Gürzenich-Orchesters, mit welchen der Verfasser nach dem Konzert die Gelegenheit hatte zu sprechen, waren voll des Lobes über ihren neuen Generalmusikdirektor und Chefdirigenten. Die Probenarbeit mit ihm sei eine Wohltat, man würde sofort verstehen, was er meine!
François Roth hinterläßt außerdem nicht den Eindruck eitler Selbstdarstellung, seine konzentrierte Miene ist nach innen gerichtet und sucht keine äußeren Ablenkungen. Er dirigiert ohne Taktstock, was der Klarheit seiner Gestik jedoch keinen Abbruch tut. Sein rhythmisches Gespür und sein Klangsinn stehen ganz im Dienste des aufzuführenden Werkes. Mehr kann man von einem ernst zu nehmenden Musiker nicht erwarten!
Philipp Kronbichler
Bild: Holger Talinski