von Héctor Berlioz. Eine dramatische Legende in vier Teilen, Textbuch: Héctor Berlioz und Almire Gandonnière, nach J.W. von Goethe (Übersetzung Gérard de Nerval)
UA: 6. Dezember 1846 Paris, Opéra Comique, (konzertant); 18. Februar 1893 Opéra de Monte Carlo,
Regie und Bühne: Alvis Hermanis , Kostüme: Christine Neumeister, Beleuchtung: Gleb Filshtinsky, Video: Katrina Neiburg, Choreographie: Alla Sigalova, Dramaturgie: Christian Longchamps
Dirigent: Philippe Jordan, Chor, Kinderchor und Orchester der Opéra National de Paris, Maîtrise des Hauts-de-Seine, Choreinstudierung: José Luis Basso
Solisten: Sophie Koch (Marguerite), Jonas Kaufmann (Faust), Bryan Terfel (Méphistofélès), Edwin Crossley-Mercer (Brander), Sophie Claisse (Voix céleste), Dominique Mercy (stumme Tanzrolle)
Besuchte Aufführung: 11. Dezember 2015 (Premiere)
Vorbemerkung
Man hat immer mehr den Eindruck, daß die Oper als Kunstgattung langsam Opfer einer neuen Gilde von Regisseuren wird,
welche die ihnen anvertrauten Werke nicht mehr interpretieren, sondern rekreieren wollen. Mag sein, daß sie frustriert sind, weil sie als kleine Meister die Werke viel größerer Meister darstellen sollen, und nun den Anspruch geltend machen wollen, selbst Schaffende zu sein. Um sich Notorietät (juristische Gewißheit) oder was immer zu erwerben, „schaffen“ sie dann auch bedenkenlos und ohne Rücksicht auf Verluste – Verluste für die Oper, für die ausführenden Sänger und Musiker – und ohne Rücksicht auf das Publikum, das vor vollendete Tatsachen gestellt wird. Diese Tendenz geht meist schon über die postbrecht’sche Theater-Ideologie hinaus. Unter dem Deckmantel der Modernität ist hier jeder Einfall recht. Je provozierender, je absurder, je politisch getönter er ist, desto besser, selbst wenn diese Interpretations-Einfälle nur noch wenig oder gar nichts mehr mit der zu Grunde liegenden Oper zu tun haben. Und natürlich darf niemand dagegen sprechen, das wäre fast schon politically incorrect. Manchmal kommt man sich vor, wie in einer Diktatur, manchmal wie in Andersens Märchen von Des Kaisers neuen Kleidern. Ob die Oper auf diese Weise überleben wird? Ich bin nicht sicher!
Kurzinhalt
Nach einer kurzen Episode in Ungarn, trifft der lebensmüde Faust auf Mephisto, der ihm alle Freuden des Lebens verspricht. Er bringt ihn zuerst in Auerbachs Keller und dann zu einem magischen Fest der Naturwesen. Dort sieht er im Traum Margarete, und begehrt sie. Mephisto schleust ihn ins Schlafzimmer des jungen Mädchens ein, wo Faust sie belauscht und dann verführt. Mephisto unterhält das Paar mit Gesängen und Tänzen der Erotik und der Leidenschaft. Margaretes Mutter stirbt an dem „Schlafttrunk“, den Mephisto ihr bereitet hat und Margarete wird für diesen Mord zum Tode verurteilt. Um sie zu retten unterschreibt Faust den Pakt mit dem Teufel. Sie kommt in den Himmel, er wird verdammt.
Aufführung
Unter den Regisseuren der Pariser Oper ist die Raumfahrt momentan Mode. Schon bei Schönbergs Moses und Aaron landete ein Sputnik auf der Bühne und tat Wunder. Alvis Hermanis und sein Team gingen in ihrem Raumfahrt-Delirium noch viel weiter. Der Regisseur stellt bildlich zu Beginn der Aufführung den gelähmten Cambridge Professor und Star Treck Freak Stephen Hawking als den Faust des 21. Jahrhunderts vor und verkoppelt im weiteren dessen Aufforderung, die Menschheit solle Mond und Mars kolonisieren, um zu überleben, mit dem Faust-Drama. Auf der Bühne wird der Professor tetraplegig in einem elektrischen Rollstuhl von einem von Pina Bauschs Startänzern dargestellt. Er verfolgt stumm und bewegungslos das Geschehen wie ein krankhafter Schatten.
Im ersten Teil ist die Menschheit noch menschlich, der Chor in Straßenkleidern hinter Gittern. Doch ab dem zweiten Teil sieht man nur noch ein fast nacktes Ballet, das sich frei auf der Bühne oder in großen durchsichtigen Retortengläsern oder in dreistöckigen Glashäusern verrenkt, umschlingt, kratzt (beim Lied von König mit seinem Floh) oder sich in Zeitlupen-Orgien liebt. Sicherlich, sie sollen die erotischen Phantasieträume bedeuten, mit denen Mephisto Margarete und Faust einschläfert, aber eine Erotik ist kaum spürbar, von einer Sinnlichkeit ganz zu schweigen. Vielleicht soll es eher die Retorten-Aufarbeitung der Menschheit sein, die für ihre Auswanderung nach Mond und Mars konditioniert wird?
Dazu singt Chor weiterhin brav den Text der Oper, spielt nun aber in weißen Laborantenkitteln die Rolle einer Vielzahl von Dr. Jekylls und Mr. Hydes oder Frankensteins, die alles überwachen, dazu als Hintergrund ein Video mit weißen Labormäusen. Im Finale der Oper singt der Chor in hellblauen Astronautenanzügen immer noch den Fausttext, aber spielt die Einschiffung in Raumschiffe, die zu fernen Planeten fliegen. Margaretes Seele schwebt zum Klange der Laus! Laus! Hosanna! Hosanna!, von Video Raumraketen begleitet, gen Himmel, während Faust in den elektrischen Rollstuhl verdammt wird, Nachdem der verkrüppelte, gelähmte Professor plötzlich zum Leben auferstanden ist.
Sänger und Orchester
Mit Jonas Kaufmann, Bryan Terfel und Sophie Koch hätte man sich kaum ein idealeres Ensemble für diese Oper wünschen können. Dazu ein gut einstudierter Chor, ein ausgezeichnetes Orchester und Philippe Jordan als Dirigent. Es hätte eine brillante Aufführung sein können. Und musikalisch war sie es auch, darüber braucht man gar nicht mehr diskutieren. Hin und wieder gab es sogar ein paar Momente, in denen man halbwegs zum Sinn der Oper zurückfand. So in Fausts Arie Le vieil hiver a fait place au printemps – der alte Winter macht dem Frühling Platz (1. Teil, 1. Szene) mit dem sehr schönen Video einer riesigen Klatschmohnwiese als Hintergrund. Dann wieder in der stimmungsvollen Romanze der Margarete (4. Teil, 15. Szene) D’amour l’ardente flamme – die glühende Flamme der Liebe, auf leerer, dunkler Bühne nur rechts und links ein kleines von innen beleuchtetes Gewächshaus und das Video einer Wiese, aber auch hier der unvermeidliche, störende, stumme Begleiter in seinem Rollstuhl (den Margarete zu Abschied küßt!?). Gleich darauffolgend Fausts Monolog Nature immense, impénétrable et fière – unendliche Natur, undurchdringlich und stolz mit dem eindrucksvollen Video eines Vulkanausbruchs. Der enorme Chor war besonders eindrucksvoll in der Amen-Fuge (2. Teil, 5. Szene).
Fazit
Objektiv gesehen werden in diesem Regie-Klamauk eine Reihe von interessanten, wenn auch oft sich widersprechenden Ideen und von schönen Bildern (vor allem Videobildern) geboten, aber mit Faust hat es herzlich wenig zu tun. Die Choreographie des modernen Ballets ist recht gut und der Anblick der jungen, athletischen Körper ästhetisch. Auch Maurice Béjard hat 1964 Damnation de Faust in einer damals recht gewagten Tanzregie auf die Pariser Opern Bühne gebracht, doch seine Tänze waren menschlich-warm und sinnlich, und sie untermalten der Oper. Hier hingegen wirkt das Ballet bei Neonbeleuchtung klinisch kühl und steril und hat mit der Oper eigentlich nicht viel zu tun. Alle Magie, alle Poesie der Legende geht verloren. Man muß hingegen einräumen: die Hintergrundvideos sind meist von großer farblicher und inhaltlicher Qualität. Zum Teil auch witzig, wie das Video des wilden Wettlaufs der Spermazoide hin zu den geduldig wartenden Eizellen und weiter bis zu den Bildern des werdenden Embryos. Und dennoch, trotz dieser sicherlich positiven Elemente, lenkt die Regie vom Wesentlichen, von Berlioz’ gewaltigem Werk ab und zwar derart, daß es störend wirkt.
Die musikalischen Seite der Aufführung wurde begeistert gefeiert, die Regie durch Buh- oder andere Zwischenrufe weitgehend verworfen. Der Regisseur und sein Team haben es dann auch vorgezogen, nicht zum Endapplaus auf der Bühne zu erscheinen.
Alexander Jordis-Lohausen
Bild: Felipe Sanguinetti
Das Bild zeigt: Dominique Mercy (stumme Tanzrolle), Sophie Koch (Marguerite), Jonas Kaufmann (Faust)