von Gaetano Donizetti (1797-1848), Dramma tragico in 3 Akten, Libretto: Salvatore Cammarano nach Walter Scotts The Bride of Lammermoor; UA: 26. September 1835 Neapel, Teatro S Carlo
Regie: Eva-Maria Höckmayr, Bühne: Christian Schmitt, Kostüme: Saskia Rettig, Licht: Nicol Hungsberg, Dramaturgie: Mark Schachtsiek
Dirigent: Eun Sun Kim, Gürzenich-Orchester und Opernchor, Choreinstudierung: Sierd Quarré
Solisten: Boaz Daniel (Enrico), Olesya Golovneva (Lucia), Atalla Ayan (Edgardo), Taejun Sun (Arturo), Henning von Schulman (Raimondo), Judith Tielsen (Alisa), Ralf Rachbauer (Normanno), Glasharmonika (Sascha Reckert)
Besuchte Aufführung: 11. Juni 2016 (Premiere)
Kurzinhalt
Die schottischen Familien Ravenswood und Lammermoor sind verfeindet. Doch Edgardo Ravenswood und Lucia Lammermoor haben sich ineinander verliebt. Heimlich trifft sie sich mit dem Geliebten am Brunnen, wo beide sich gegenseitige Treue schwören. Lucias Bruder Lord Enrico aber will seine Schwester mit dem reichen Lord Arturo Bucklaw verheiraten, um die Familie aus ihrer verschuldeten Lage zu retten. Inzwischen schreibt Edgardo, der sich als Botschafter in Frankreich befindet, Briefe. Fast alle Briefe werden von Enrico unterschlagen. Doch einer davon fälscht er und übergibt ihn seiner Schwester. Darin gesteht Edgardo Lucia, daß er eine andere lieben würde.
Nachdem Lucia den gefälschten Brief gelesen hat unterschreibt sie den Ehevertrag mit Arturo Bucklaw. Die Hochzeitsfeier beginnt. Da taucht plötzlich Edgardo auf und fragt Lucia, ob es stimme, daß sie einen anderen lieben würde. Als Lucia das bejaht, gibt er ihr den Ring zurück. Während die Hochzeitsgäste noch feiern, taucht plötzlich Lucias Vertrauter Raimondo auf und verkündet, daß Lucia in einem Anfall von Wahnsinn ihren Bräutigam erstochen habe. Mit Dolch und blutverschmiertem Kleid taucht Lucia im Saal auf. Ihr Geist scheint verwirrt. Im Morgengrauen erwartet Edgardo bei den Gräbern von Ravenswood. Da erscheint Raimondo. Dieser berichtet, daß Lucia gestorben sei. Edgardo beschwört noch einmal seine Liebe zu Lucia und ersticht sich.
Aufführung
Im Blickfeld gegenüber den Zuschauern fällt eine breite Treppe auf, die zum zweiten Stock eines Hauses hinaufführt. Von hier läßt sich ein Zimmer betreten, dessen Inneres durch ein breites Glasfenster einsehbar ist. Im Zimmer erkennt man ein quer zum Betrachter aufgestelltes Bett. An der Wand ein Gemälde, auf dem fünf Erwachsene und zwei Kinder abgebildet sind. Aus dem Zimmer führt nach rechts außen eine Veranda. Letzter kann man durch eine Tür verlassen. Auf der unteren Ebene gibt es eine Art Innenhof, der ein flaches, wannenartiges Bassin, fast in Größe des ganzen Innenhofs, einnimmt.
Der zweite Akt zeigt eine Variation des ersten Bildes: die Treppe führt jetzt rechts ins obere Stockwerk. Auf ebener Erde erblickt man nun ein zweites Zimmer mit rückwärtiger Glaswand. Davor gibt es einige Sessel und einen Couchtisch.
Das Orchester ist links neben dem Bühnenaufbau plaziert. Die Dirigentin ist vom Platz des Berichtenden nicht zu sehen. Überhaupt kann man im ersten Akt die handelnden Personen auf ebener Erde nur wenig gewahr werden.
Sänger und Orchester
Die Sänger werden kaum von der Musik übertönt, was weniger der Dirigentin als der seitlichen Aufstellung des Orchesters geschuldet. Auf diese Weise sind die edlen Belcantolinien unvermittelt hörbar. Der Chor ist gut einstudiert und kommentiert prächtig mit meist (allzu) großem Volumen. Eine rechte Stimmung der Leidenschaftlichkeit und der Überraschungen kommt nicht auf: vieles spielt sich auf der betonartigen (Frei)Treppe ab. Auch das plötzliche Erscheinen des vermeintlich untreuen Edgardo ist keine Überraschung mehr; denn jemand, der zu einer Menge im Freien hinzukommt, fällt kaum auf. Ja, wenn alles im Burg- oder Schloßzimmer vonstatten gegangen wäre, da hätte man vielleicht den Atem angehalten. So wurde die wichtige Szene sang- und klanglos verspielt. Der mit zitternden Händen unterzeichnete Ehevertrag Lucias, der das plötzliche Auftauchen des über alles geliebten Edgardo einleiten sollte, wurde daher wenig wahrgenommen.
Im ersten Akt erwartet Olesya Golovneva (Lucia) ihren Edgardo am Brunnen. Hier sitzt Lucia auf dem Rand eines wannenartigen Bassins. Das paßt recht zu ihrem Gesang: Diesen Brunnen kann ich nicht ohne Zittern ansehen … (4. Szene). Man kann es ihr nachfühlen!
Atalla Ayan (Edgardo) erscheint, in hellbrauner Hose, Jackett und rotem langem Schal. Er kündet Lucia sein Weggehen an. Dann erneuert er am Grab seines Vaters den Racheschwur gegen die von Lammermoor. Schon hier fällt die südlich-sinnliche Stimme des Brasilianers mit ausgeglichenem Klang angenehm auf. In noch größerer Vollendung erlebt man ihn dann in seine Aria finale am Opernende, wo er aus Gram über den Verlust von Lucia all seine Gestaltungsmöglichkeiten spürbar werden läßt. Überwältigend gelingt ihm Fra poco a me ricovero – bald wird mir ein verlassenes Grab Zuflucht geben: der Klang seiner schön timbrierten Stimme, der mühelose Durchgang in die hohen Lagen und die wohllautenden Töne in mittlerer Lage faszinieren. Ein Sänger mit großen Zukunftschancen! Weitere gesangliche Höhepunkte waren keine mehr an diesem Abend zu registrieren, auch nicht von Olesya Golovneva (Lucia).
Fazit
Ob die Eigenmächtigkeiten der Regisseurin von Nutzen (Erklärung) für die Donizetti-Oper waren wie der Mord am Ehemann Arturo (Taejun Sun) mit einem Leuchter durch Enrico (Boaz Daniel) statt durch Lucia (so im Original) oder der Mord Lucias durch Enrico, der sich dann selbst erschoß, mag das Publikum entscheiden. Jedenfalls eine merkwürdige Sicht auf eines der berühmtesten Tragödien der italienischen Oper, die das Scott-Donizetti-Ambiente brutal umpflügte. Das Publikum war jedenfalls auf Buh eingestellt. Daß es hören konnte, bewies es bei der Schlußverbeugung durch frenetischen Beifall für den sympathischen Südamerikaner Atalla Ayan.
Dr. Olaf Zenner
Bild: Bernd Uhlig
Das Bild zeigt: Olesya Golovneva (Lucia), Atalla Ayan (Edgardo)