Ingo Metzmacher leitet die Wiener Philharmoniker
Anton von Webern (1883-1945): Sechs Stücke für großes Orchester Op. 6 (1909/10)
Karl Amadeus Hartmann (1905-1963): Sinfonie Nr. 1 Versuch eines Requiems für Alt und Orchester (1935/36, rev. 1947/48, 1954/55)
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975): Sinfonie Nr. 11 g-Moll Op. 103 Das Jahr 1905 (1956-57)
Konzertbesuch: 21. Januar 2017
Das Programm im Überblick
Eröffnet wurde das Konzert mit den sechs Orchesterstücken Op. 6 von Anton von Webern. Sofort fällt auf, wie unglaublich modern und progressiv die Zweite Wiener Schule um Arnold Schönberg (1874-1951) auch schon in ihrer Frühphase war! Weberns Werke gehörten damals schon zum Nonplusultra der Avantgarde und haben diese Position – im Gegensatz zu Schönberg und Alban Berg (1885-1935) – dank der Radikalität ihrer inneren Haltung bis heute nicht verloren. Denn die 1909/10 entstandenen Orchesterstücke besitzen bereits alle für Weberns Stil typische Eigenschaften: Kürze und Knappheit der Formulierung (keines von ihnen dauert länger als ein paar Minuten), sowie nach innen gerichtete Expressivität, die sich in eher leisen Klängen und einem sehr sparsamen, lichten, pausendurchsetzten Orchestersatz äußert. Diese radikale Umkehr des Ausdrucks nach innen sollte für die Entwicklung der Neuen Musik, besonders unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg, höchst bedeutsam werden. Nicht nur radikale Konstruktivisten wie Pierre Boulez (1926-2016) wurden von ihm angeregt, sondern auch Experimentatoren wie John Cage (1912-1992) oder Klangmystiker wie Morton Feldman (1926-1986).
Die 1. Sinfonie des Webern-Schülers Karl Amadeus Hartmann paßte trotz ihrer wesentlich größeren Dimensionen erstaunlich gut zu diesen sinfonischen Miniaturen. Die solistische Altstimme mit Texten von Walt Whitman (1819-1892) zwang auch hier den Komponisten zu einer eher sparsamen Orchesterbehandlung. Im wesentlichen war das Werk 1934/35 entstanden, wenige Jahre, nachdem in Deutschland die Nationalsozialistische Partei an die Macht gekommen war, gegen deren repressive Politik der Komponist durch den Gang in die innere Emigration rebellierte und bis 1945 Aufführungen seiner Musik in Deutschland untersagte. So ist auch die fünfsätzige 1. Sinfonie im Ausdruck nach innen gerichtet, nachdenklich, mehr klagend/traurig als aufbegehrend und schöpft einen Großteil ihrer nach außen gerichteten Botschaft aus den Versen Whitmans (in deutscher Übersetzung) und der Behandlung der Altstimme. Eine Ausnahme ist der dritte Satz, der rein instrumental ausgeführt ist und das mit der Stimme nicht (mehr) sagbare in Töne setzt.
Die innerliche Expressivität des Werks korrespondiert mit der inneren Haltung des Komponisten, der nicht anklagt oder mit möglichst grellen Effekten schockieren will, sondern sich in die Einsamkeit zurückzog und den Wahnsinn des Geschehens der äußeren Welt betrauerte. Nach dem Krieg unterzog Hartmann die Sinfonie zweimal einer gründlichen Bearbeitung.
Die 11. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch nach der Pause brachte dann den großen Gegensatz. Ihr Untertitel 1905 god („Das Jahr 1905“) bezieht sich auf ein konkretes historisches Ereignis, nämlich den sogenannten „Petersburger Blutsonntag“ am 22. Januar 1905, als Soldaten in eine Arbeiterdemonstration vor dem Winterpalast, der Residenz von Zar Nikolaus II., schossen. Eigentlich war das Jahr 1957 Hauptentstehungs- und Uraufführungsjahr dieser Sinfonie. Es war auch der 40. Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917, für den von seiten des Staates gerade von Schostakowitsch ein gewichtiger Beitrag erwartet worden war, der dann jedoch bis 1961 auf sich warten ließ. Ein anderes Ereignis ließ den Komponisten dann jedoch ein Werk anderer Beziehung verwirklichen: der ungarische Volksaufstand 1956, der von der sowjetischen Armee brutal niedergeschlagen wurde. Schostakowitsch konnte damals nicht öffentlich darüber sprechen, gab in privaten Gesprächen jedoch an, daß dies eine der wichtigen Triebfedern bei der Komposition gewesen war.
So wurde die 11. Sinfonie ein Monumentalwerk von gut einer Stunde Länge, deren vier Sätze auch noch ohne Unterbrechung ineinander übergehen.
Schostakowitsch verarbeitete darin Melodien von Revolutions- und Volksgesängen und zitierte aus dem Boris Godunow von Modest Mussorgskij (1839-1881). Er führte darin die Tradition der symphonischen Expressivität von Gustav Mahler (1860-1911) weiter und stellte sie – anders als von Webern etwa – nicht in Frage.
So zog sich der rote Faden der Programmgestaltung von der Reaktion eines Komponisten auf den allgemeinen gesellschaftlichen Zustand bis hin zur Reaktion auf ein bestimmtes historisches Ereignis durch das Konzert.
Die Aufführung
Man mag argwöhnen, die Wiener Philharmoniker als traditionsverbundenes Orchester wären eher die zweite Wahl für ein Programm mit Instrumenten, die noch dem Klangideal des 19. Jahrhunderts folgen, also mehr auf Klangschönheit als Klangschärfe oder Klangmasse setzen. Das Gegenteil war der Fall! Es mochte an Ingo Metzmacher, dem Dirigenten des Abends gelegen haben, dieses traditionsreiche und -verbundene Orchester in solch ungewohntem Gewand zu präsentieren.
Selten hörte man Webern so durchsichtig, klar und präzise interpretiert! Die Feinheit und Subtilität, aber auch die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit seiner Musik wurde eindringlich vermittelt. Hier konnte das Orchester im schwierigen rhythmischen Zusammenspiel und dem Wandern der Stimmen durch die Instrumente seine hohe Qualität zeigen! Gerade letzteres ist eine Spezialität Weberns, der gerne melodische Linien auf mehrere Instrumente verteilt, was besonders bei großen Klangkörpern eine enorme Konzentration und ein musikalisches Mitdenken in allen Stimmen erfordert. Die Wiener Philharmoniker meisterten diese Hürde mit bewunderungswürdiger, selten gehörter Souveränität.
In der Hartmann-Sinfonie wurde der Klangkörper durch die fantastische Altistin Gerhild Romberger ergänzt, die es mühelos schaffte, als Hauptträgerin des musikalischen Ausdrucks durch das Stück zu führen. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen war ihr Gesang- und Sprechduktus so klar und ihr Vibrato so zurückhaltend, daß der Text auch ohne Blick ins Programmheft verständlich war. Auch vermied sie den oft begangenen Fehler, „in die Noten“, also schräg abwärts zu singen, was den Klang abgestumpft hätte. Gerhild Romberger sang von Anfang an mit Blick nach oben und schaffte damit das gar nicht leichte Kunststück, mit eher dunkler Stimmlage den Klang im Raum der Philharmonie zu projizieren. Einzig im dritten Satz, dem instrumentalen Herzstück der Sinfonie, verharrte das Orchester ein wenig zu sehr im „Begleitklang“ der anderen Sätze, wodurch die musikalischen Linien – besonders in den Holzbläsern – etwas an expressivem Ausdruck einbüßten.
Bei der Schostakowitsch–Sinfonie nach der Pause stimmte jedoch buchstäblich alles, vom modal angehauchten, zarten Beginn bis hin zum unversöhnlich harten Quintquartklang des Schlußakkordes. Ingo Metzmacher dirigierte hier mit einer unerhörten Dynamik und das Orchester folgte ihm, steigerte sich in den wahnwitzigen Höhepunkten mit ihren grellen, schneidenden Blechbläserdissonanzen und den aufpeitschenden Märschen förmlich in ein klangliches Delirium hinein, verlor jedoch nie die Kontrolle oder den Überblick. Es ist dies ein Zeichen wirklich großer Kunst, sich scheinbar in der Musik zu verlieren und trotzdem nichts aufzugeben.
Ingo Metzmacher dirigierte in jeder Hinsicht souverän, bestand auf feinsten klanglichen Spitzen und Schärfen, stützte und schützte die Gesangssolistin, setzte stark physisch erlebbare Kontraste und animierte das Orchester sowohl zur Aufmerksamkeit für die Facetten einer Miniatur wie zur großen Geste und Anima, und nahm sich selbst, dem Werk zuliebe, als Person zurück. Im Klangkörper der Wiener Philharmoniker fand er einen kongenialen Partner zur Verwirklichung dieser Ideale und nutzte souverän diese einmalige Chance. Diese spielten zwar immer noch mit ihrem „schönen“ Klang, vermochten jedoch gerade dadurch diesem irrwitzigen Werk noch eine Note höhere Intensität zu verleihen. Es schien kaum noch möglich, eindringlicher den Schrecken und Wahn kriegerischer Gewalt mit musikalischen Mitteln darzustellen.
Fazit
Nach dem letzten Ton brach die vollbesetzte Philharmonie in einen bei solch schwieriger und fordernder Musik selten gehörten, einmütigen Jubel aus und belohnte Orchester und Dirigent für die musikalische Sternstunde mit mehrminütigen, stehenden Ovationen. Die Schostakowitsch-Sinfonie hatte das Kölner Publikum endgültig bezwungen! Hartmanns Sinfonie hatte es in ihrer tragischen Innerlichkeit ernst und traurig gestimmt, Schostakowitsch zerrieb und zermalmte einen förmlich. Jede der beiden Sinfonien wurde dadurch auf ihre Weise zu einer existentiellen Erfahrung.
Insgesamt war es also nicht nur ein sehr gelungener Abend, gezeichnet von einer außergewöhnlichen Qualität der Darbietung, sondern auch eine sehr verdienstvolle Sache, ein solches Programm mit hierzulande selten gehörten Werken aufzuführen. Dieses Konzert zeigt, daß die sogenannte schwierige neue Musik ihre Wirkung auch beim großen Publikum erzielen kann, wenn sie, dank tiefer Durchdringung der Werke, sowohl in präziser als auch atmosphärisch mitreißender Gestaltung seitens des Dirigenten sowie einer klanglich und rhythmisch nuancierter Umsetzung seitens des Orchesters aufgeführt wird. Hier wurde auch klar, daß die klangliche Verwurzelung in der Tradition des singenden Klangs des 19. Jahrhunderts auch für Werke des 20. Jahrhunderts eine Bereicherung darstellt.
Interessanterweise fiel wieder einmal auf, daß das älteste Werk des Abends – die Orchesterstücke von Webern – immer noch das modernste ist …Webern schuf eine so zarte, eindringlich komprimierte Musik, daß sie zwangsläufig von Anfang an in Kollision mit den gängigen Konzertabenden steht. Der „normale“ Konzerthörer will gepackt und mitgenommen werden, und genau das versagt ihm Webern. Denn um ihn zu verstehen muß man zuerst innerlich still werden. Daher stellt sich die Frage, ob die Form einer „normalen“ Konzertaufführung dem Werk von Webern (und Komponisten mit ähnlicher Haltung) überhaupt gerecht wird oder ob nicht eine neue, heute so noch nicht existierende, gefunden werden muss.
Philipp Kronbichler und Jovita Zähl
Bild: Dmitri Schostakowitsch, Wikipedia