Klavierwerke von Frédéric Chopin (1810-1849)
Deux Nocturnes cis-Moll, Op. 27, Nr. 1 und Des-Dur Nr. 2, Balladen As-Dur, Op. 47 Nr. 3, f-Moll, Op. 52 Nr. 4, Berceuse Des-Dur Op. 57, Scherzo h-Moll Op. 20; Deux Nocturnes f-Moll, Op. 55, Nr. 1 und Nr. 2 Es-Dur, Sonate h-Moll Op. 58 (Allegro maestoso, Scherzo, Largo, Finale. Presto, ma non tanto
Besuchtes Konzert: 10. Februar 2017
Chopin – Pollini, dieser Hinweis im Programm der Kölner Philharmonie, sorgte schon mit den beiden Namen für zahlreiches Publikum. Chopin oder Pollini, schwer zu entscheiden, welcher Name den Ausschlag gab, daß die Massen strömten. Der italienische Pianist war vor fast genau zwei Jahren am 18. Februar 2015 in der Philharmonie mit einem bemerkenswerten Programm aufgetreten. Er spielte die selten zu hörende Kreisleriana von Robert Schumann und die 24 Préludes von Frédéric Chopin. Das Konzert wurde im OPERAPOINT in Heft 2/2015 besprochen. Dieses Jahr nun ein Programm, ausschließlich mit Kompositionen des großen polnisch-französischen Komponisten.
Manches erinnerte den Rezensenten an das Konzert im vorvorigen Jahr: Pollinis rascher Gang zu „seinem“ Flügel der Marke Angelo Fabbrini, knappes Verbeugen gegen alle Seiten und sofortiger Griff in die Tasten.
Zwei Nocturnes aus den Jahren 1835, Chopin war damals 25 Jahre alt und lebte seit vier Jahren in Frankreichs Hauptstadt, am Konzertbeginn. Die in die Tiefen des Flügels hinabsinkende Begleitung beim ersten Nocturne in cis-Moll rückten die runden Bässe des Fabbrini-Flügels in den Vordergrund. Zum Nocturne-Ende dann die anmutigen Terzen der beiden Oberstimme. Pollinis Klangsinn machte solche Chopinsche Feinheiten hörbar. Gleich darauf liebkosten weitere Terzen- und Sexten-Passagen im Des-Dur Nocturne unsere Ohren, wobei er aufs Schönste dynamisch abstuft. Die Zusammenstellung dieser beiden Nocturnes mit soviel Terzenseligkeit, die nur Chopins Vornehmheit vom Süßlichen befreite, zeigt Pollinis Gespür für Programmgestaltung.
Es folgten die Balladen As-Dur Op. 47, f-Moll Op. 52 aus den Jahren 1841/43. Am besten traf Pollini den erzählerischen Ton bei der As-Dur-Ballade. Doch es fielen die vielen beschleunigten Passagen auf, mit der leider Unruhe aufkam. Auffallend waren die unvermittelten Beschleunigungen an den Stellen, an denen Chopin das liedhafte Thema verzierte. Dadurch ging die ursprüngliche Eleganz dieser Stellen verloren. Auch der reichliche Gebrauch des Fortepedals bei schnellen Stellen ließ Konturen verschwinden. Das Trio beim nachfolgenden Scherzo h-Moll empfand man gegenüber den beiden Balladen regelrecht als eine Erholung.
Den ersten Konzertteil beendete Pollini mit der Berceuse, einem genialen Stück, bei dem in der linken Hand fortwährend die Spielfigur des Wiegens erklingt. Diese Begleitfigur verbleibt ohne Unterbrechung in der Grundtonart Des-Dur. Unter den mannigfaltigsten melodisch und rhythmisch gestalteten Figuren der rechten Hand verschwand aber die scheinbare Eintönigkeit der Begleitfigur. Die Berceuse und die Sonate h-Moll (am Ende des Konzerts) entstanden im Jahr 1844, und beide sind in ihrer harmonischen Anlage erstaunlich avantgardistisch, mit anderen Worten, eine derartige Tonsprache fand sich wohl kaum bei anderen Klavierwerken der damaligen Zeit.
Wie zu Anfang erklangen nach der Pause zwei Nocturnes, die Chopin 1843, sechs Jahre vor seinem frühen Tod komponierte. Dem zweiten Nocturne in Es-Dur gibt Pollini vollendet seinen pastoralen Charakter. In diesem Stück schaffte Pollini es, mit expressivem Gesang jeder Note selbst in der belanglosesten Nebenstimme noch musikalischen Sinn und Charakter zu verleihen. Leider gelang ihm dies nicht auch im Nocturne f-Moll. Letzteres hat ein schlichtes, einprägsames Thema, das dem Stück den Charakter von Traurigkeit vermittelt. Permanent beschleunigt Pollini den mittleren Takt des dreitakigen Themas, wodurch eine große Unruhe entsteht, was dem Stück den melancholischen Ausdruck raubt. Nun kann der Interpret den traurigen Aspekt nicht berücksichtigen, er kann ihn sogar unterbinden. Damit aber vernichtet er die von Chopin festgelegte Eigenheit des f-Moll Nocturnes. Sicher wurde die traurig-melancholische Sichtweise früher von Pianisten bei ihrer Darbietung übertrieben.
Das gewichtigste Werk des Konzertabends war zweifellos die h-Moll Sonate. Chopin hat, abgesehen von seinem Jugendwerk, der Sonate in c-Moll Op. 4 (1827/28), zwei Sonaten geschrieben. Die erste Sonate b-Moll Op. 35 (1837/39) ist durch den Trauermarsch des zweiten Satzes die bekanntere. Doch die hier vorgetragene Sonate h-Moll Op. 58 ist – wie oben schon erwähnt – die harmonisch gewichtigere seiner Sonaten.
Dem Publikum schien der erste Satz so gut gefallen zu haben, daß es spontan applaudierte, etwas, was in früheren Jahren gewissermaßen zum Platzverweis geführt hätte, jetzt aber, in unserer tolerant-relativistischen Zeit geflissentlich übersehen wird. Der Beifall „erstarb“ dann auch nach etwa dreißig Sekunden.
Den ungemein überraschenden Beginn der Sonate mit seinem abrupten Wechsel von Akkorden und virtuosen Passagen gestaltete Pollini eindrucksvoll. Aber auch hier betätigte er das Fortepedal etwas zuviel, so daß die kontrapunktischen Melodiestimmführungen im Gewitter der Baßchromatik kaum vernehmbar waren. Wohl um das Konzert nicht unnötig in die Länge zu ziehen, ließ er im ersten Satz auch die Wiederholung weg und ging gleich weiter in den Durchführungsteil.
Den zweiten Satz, das Scherzo, dessen Beginn stets ein Bravourstück für Klaviervirtuosen war und ist, nimmt er so rasch, daß die von Chopin beabsichtigte Bewegung der Achtelpassagen der rechten Hand durch das Tempo und durch zuviel Pedal nivelliert wurde. Ähnliches widerfährt dem liedhaften zweiten Thema: ihm verleiht Pollini nicht die nötige Innerlichkeit.
Das Largo, der dritte Satz, ist ganz lyrisch gehalten. [Das gilt vor allem für den in triolischer Bewegung gehaltenen Mittelteil, der durch Pollinis Temposchwankungen viel von seiner bach’schen Schlichtheit einbüßt. Auch hier vermißt man den anmutigen Charakter der Melodie, der dem zu schnellen Tempo anheimfällt. Natürlich ist Pollinis unkonventionelle Behandlung lyrischer Abschnitte bei Chopin bekannt. Kein geringerer als der Kritiker Joachim Kaiser schrieb zu Anfang von Pollinis Karriere (1960), daß er in diese Musik, die so leicht zum Sentimentalen verführt, eine andere Art einführt, die die Töne zum Sprechen bringt, nur eben nicht so, wie man es bisher gewohnt war. Vielleicht hat sich das Vermeiden des sentimentalen Vortrags heute etwas verflüchtigt, da man die sentimentale Attitüde früherer Pianisten vergessen hat. Vielleicht fehlt uns heutigen Menschen aber auch das Sentimentale?
Mit unerhörten Tempo stürzt sich Pollini sodann ins Finale, das Chopin mit Presto, ma non tanto – schnell, aber nicht allzuschnell. Aber – wie nach dem vorangegangenen erwartet – nimmt Pollini den letzten Satz zu schnell. Auch dabei diente ihm wieder das Fortepedal des Flügels zum „Dahinfliegen“: ein Menge Noten entzogen sich dem Hören.
Das Publikum war begeistert, stand schon nach einer halben Minute Applaus von den Plätzen auf und blieb so lange beim Klatschen, bis der Meister eine Zugabe nach häufigem Hin- und Weggehen servierte: der vollständigen Wiedergabe der Ballade g-Moll Op. 23 (1831/35).
Es bleiben gemischte Gefühle beim Rückblick auf das Konzert. Auf der einen Seite hat Pollini bis ins hohe Alter seine fabelhafte Fingertechnik behalten. Auf der anderen Seite verdeckt er mit einer nicht immer gezielt eingesetzten Pedaltechnik vieles der vorgetragenen Musik, überzeugt aber immer noch mit seinem Gefühl für Dynamik und seinem überragenden Klangsinn. Durch sein letzten Endes mehr mechanisches als aus innerem Ausdrucksbedürfnis gewonnenem Rubato verläßt Pollini leider seinen früher eingeschlagenen Weg der Desentimentalisierung Chopins.
Dr. Olaf Zenner
Bild: Maurizio Pollini, Wikipedia