Dirigent: Valery Gergiev, Münchener Philharmoniker
Solist: Daniil Trifonov, Klavier
Programm
Claude Debussy (1862-1918): Prélude à l’après-midi d’un Faune (1893/94)
Sergej Rachmaninoff (1873-1943): Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll Op. 30 (1909), Sinfonische Tänze Op. 45 (1940)
Konzertbesuch: 19. Februar 2017
An diesem Abend erlebte die Philharmonie etwas Seltenes: nicht nur waren alle Sitzplätze besetzt, sondern auch die Stehplätze in der Galerie. Was hatte das Kölner Konzertpublikum in solchen Scharen angelockt? Waren es die Stücke, der Dirigent, oder das Orchester?
Es war der Solist Daniil Trifonov, Jahrgang 1991, der vor fünf Jahren binnen sechs Wochen sowohl den renommierten Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau, als auch den Arthur-Rubinstein-Wettbewerb in Tel-Aviv gewonnen hatte. Kein geringerer als Valery Gergiev hatte Trifonov beim Tschaikowsky-Wettbewerb im Juni 2011 „entdeckt“! Für den jungen Pianisten bedeutete das den Durchbruch zu einer phänomenalen internationalen Konzertkarriere. Doch wie schon Schubert anläßlich neuer Besucher beim Treffen seiner Freunde stets fragte: Kann er was?
Das Programm
Der Konzertabend wurde dominiert von Werken von Sergej Rachmaninoff. Etwas merkwürdig mutete die Wahl ausgerechnet des Prélude à l’après-midi d’un Faune von Debussy als Eröffnungsstück an, jenes Wegweisers zur modernen Musik, mit der Rachmaninoff nichts zu tun haben wollte. Auch inhaltlich gibt es reichlich wenig Bezugspunkte zwischen der musikalischen Welt des Franzosen, dessen Kunst dahin strebte, Unfaßbares, Ungreifbares, Immaterielles in Töne zu fassen, und der des Russen, dem es darum ging, innerhalb der musikalischen Tradition seines Landes und der europäischen Musikkultur einen eigenen Ausdruck zu finden.
Debussy hatte – obwohl er bei der Komposition des Prélude à l’après-midi d’un Faune erst knapp über dreißig war – bis zu diesem ersten Meisterwerk einen langen musikalischen Weg zurückgelegt, der vor allem geprägt war von der kompromißlosen Suche nach neuen Klang- und Ausdruckswelten. Debussy schaffte darin – wie auch in den folgenden Werken – das Wunder, eine zugrundeliegende, klare musikalische Struktur derart zu verhüllen, daß der Eindruck eines steten Improvisierens, einer sich ständig neu entdeckenden und erfindenden Musik entsteht – ohne den Zuhörer sich in diesem scheinbaren Labyrinth verlieren zu lassen!
Die Symphonischen Tänze hingegen sind Rachmaninoffs persönliche Summe seines kompositorischen Schaffens. Sie entstanden im Sommer 1940 in fieberhafter, fünfwöchiger Arbeit in seinem damaligen Landhaus auf Long Island. In keinem anderen Werk (außer vielleicht der Chorsymphonie Kolokola [Glocken] Op. 35 von 1913) schaffte er eine so überzeugende Synthese von Melodik, Harmonik und Rhythmik. Zitate aus früheren Werken und die Rachmaninoffs Schaffen immer wieder durchziehende Dies irae Sequenz sind unaufdringlich in den komplexen musikalischen Satz eingewoben. Harmonisch wagt sich der Komponist für seine Verhältnisse weit in die Moderne, ohne jedoch seine Wurzeln je preiszugeben.
Sein beliebtes Drittes Klavierkonzert in d-Moll Op. 30 schafft eine ähnliche Synthese auf der Ebene von Pianistik und Symphonik, und zwar sowohl was die Form als auch die Behandlung von Klavier- und Orchesterpart betrifft. Es entstand im Sommer 1909 – gleich den Symphonischen Tänzen – geradezu blitzartig innerhalb weniger Wochen auf Rachmaninoffs Landgut Iwanowka.
Gegenüber dem ähnlich beliebten Zweiten Klavierkonzert Op. 18 (1900/01) ist der Klavierpart etwas dominanter, die Harmonik komplexer, die Form insgesamt geweitet. Der Kopfsatz spart weitgehend die Reprise aus und setzt an ihre Stelle eine ausgedehnte, in zwei Fassungen überlieferte Solokadenz. Der Mittelsatz hingegen kombiniert Scherzo und langsamen Satz. Das Finale nutzt, wie im Zweiten Klavierkonzert, das lyrische Seitenthema in der Coda zu einer hymnischen Schlußsteigerung, die das ganze Werk sozusagen krönt.
Es ist hochriskant, musikalisch so diametral entgegengesetzte Welten wie Debussy und Rachmaninoff in einem Konzert zu kombinieren. Das Risiko liegt dabei nicht nur in der Balance der Präsentation, sondern auch in einer drohenden Überforderung von Publikum und ausführenden Musikern.
Leider bewahrheiteten sich diese Befürchtungen. Valery Gergiev und den Münchener Philharmonikern gelang es nicht, den richtigen Ton von Debussys Prélude à l’après-midi d’un Faune zu treffen. Bei aller Meisterschaft der klanglichen Auslotung, der plastischen Tongebung, rhythmischen Präzision und architektonischen Gestaltung, war der Klang von Anfang an viel zu erdverbunden und verfehlte somit den wesentlichen geistigen Inhalt des Werks. Daß der Funke auf das Publikum nicht übersprang bemerkte man am höflichen Applaus, der recht schnell erstarb.
Danach folgte jedoch eine musikalische Sternstunde, wie es nur wenige gibt! Der junge Pianist Daniil Trifonov hält was sein Ruf verspricht und meistert das schwierigste unter den klassisch-romantischen Klavierkonzerten nicht nur, er verwandelt es in eine Offenbarung, die einen danken läßt, daß diese musikalischen Qualitäten im digitalen Zeitalter nicht nur fast beliebiger Reproduzier- sondern auch Verfälschbarkeit, immer noch möglich sind! Schon bei der kurzen Orchestereinleitung, als Trifonov noch gar nicht spielt, strahlt er bereits eine derartige Versunkenheit und Konzentration aus, daß spürbar wird: gleich wird etwas Besonderes geschehen!
Und als er die Hände auf die Tasten legt, geschieht dieses Besondere tatsächlich! Vom ersten Ton an spricht und singt der Steinway-Flügel in jeder Lautstärke mit einer Intensität, die selbst die für den Pianisten widrigen akustischen Bedingungen der Kölner Philharmonie niederringt. Es ist nur ganz wenige Male, daß Trifonov sich in der Klanggebung etwas verschätzt oder ein wenig zu reichlich Pedal nimmt und die Baßlinie leicht verschmiert. Es ist jedoch nicht nur jener besondere, mit unbegreiflicher Kunst in den Raum hineinprojizierte Klavierklang, der gefangennimmt, sondern auch die bei aller Individualität organische Formgebung seiner Interpretation, die das Werk nicht um einer persönlichen Meinung oder Aussage willen verzerrt, sondern seinen Geist aufgreift und (wenn auch auf persönliche Art und Weise) mit ungeheurer Energie und Kompromißlosigkeit vermittelt. Er verfällt auch nicht dem oft begangenen Fehler, sich allzusehr auf die Oberstimme zu konzentrieren. Trifonov ist der ganze musikalische Satz wichtig, der Baß und die Mittelstimmen ebenso wie die Oberstimme (hier zeigen sich vielleicht auch die Früchte seiner kompositorischen Arbeit!).
Hinzu kommt eine ungeheure Fingerfertigkeit und Technik, die selbst in schnellsten Passagen den Klang rein, glockenhell und musikalisch bleiben läßt. Und wer um die akustische Problematik der Kölner Philharmonie Bescheid weiß, wird jene ungeheure Leistung zu würdigen wissen, sich am Höhepunkt, kurz vor Schluß mit dem Klavier gegen die mächtigen Blechbläser durchzusetzen!
Dieser furiose Schluß riß das Kölner Publikum tatsächlich wie ein Wirbelwind von den Sitzen! Ein rückhaltloser Jubel, der diesmal nichts mit dem nahenden Karneval zu tun hatte, fuhr durch die Reihen der Besucher, die in spontane, einheitlichen stehende Ovationen ausbrachen. Der sichtlich erfreute, ob dieses Beifalls fast schon leicht überwältigt wirkende junge Pianist, bedankte sich denn auch mit einer musikalischen Kostbarkeit: dem langsamen Satz aus Rachmaninoffs Erster Klaviersonate d-Moll Op. 28, die man hierzulande leider nie im Konzertsaal hört. Nur schade, daß er den Mittelteil ausließ und vom Eröffnungsteil direkt in den Schluß sprang…
Gegen dieses musikalische Ausnahmeereignis hatte es die zweite Hälfte nach der Pause schwer. Doch Gergiev und die Münchener Philharmoniker erwiesen sich dem gewachsen und zeigten sich ganz in ihrem Element! Selten hörte man diese, für Orchester so teuflisch schwer zusammenzuspielbaren Stücke in dieser Qualität! Es gab weder rhythmische Wackler, noch intonatorische Unsicherheiten! Selbst in der Coda des Finales spielte das Orchester wie ein Mann zusammen! Hinzu kam jene offensichtliche Musizierfreude, die im Debussy so schmerzhaft vermißt wurde. Gergiev brachte sogar das Kunststück fertig, den labyrinthischen, komplexen Mittelsatz – man hat das Gefühl, Paul Dukas und Maurice Ravel hätten sich darin verschworen, dem Walzer endgültig den Todesstoß zu versetzen! – sowohl inhaltlich als auch formal überzeugend zu vermitteln und weder Orchester noch Publikum sich darin verlieren zu lassen.
Die Ovationen, die Dirigent und Orchester nach dieser Leistung erhielten, waren mehr als verdient und rückten den Abend endgültig in die Sphäre einer musikalischen Sternstunde! Wann erlebt man schon zwei standing ovations in einem einzigen Konzert!
Fazit
Es war, wie schon geschrieben, ein ebensolches musikalisches Ausnahmeereignis, wie Daniil Trifonov ein absoluter Ausnahmepianist ist, der derzeit vielleicht weltweit beste. Daß er auf grundsätzlicher Ebene – technisch, klanglich, rhythmisch, gestalterisch – keine Fehler macht, ist leider ebenfalls als Ausnahme anzumerken. Hinzu kommt aber noch eine überwältigende Präsenz und Konzentration im Spiel, die er nur mit den ganz Großen der Pianisten teilt. Dabei fällt auf, wie verschwenderisch er mit seinen Ressourcen umgeht. Maßhaltung ist Trifonovs Sache nicht, er geht körperlich aufs Ganze und erreicht damit eine unerhörte Bandbreite an Ausdruck, von marmorner Unbeweglichkeit und absoluter Versunkenheit bis hin zum „Rumpelstilzchentanz“ am Klavier, wo beide Hände bis hoch über den Kopf geschwungen werden und jeder Akkord ein Sprung vom Sitz bedeutet. Das wahre Wunder dabei ist, daß er trotzdem den musikalisch-architektonischen Bogen nicht nur nicht verliert, sondern immer noch überzeugend gestalten kann!
Ein weiteres Wunder ist, wie er sich bei derartigem körperlich-geistigem Einsatz und einem so anstrengenden Konzertprogramm (allein über 50 Auftritte weltweit im ersten Halbjahr 2017!) nicht verausgabt! Es bleibt ihm zu wünschen, daß er seine Qualitäten noch viele Jahre bewahren und verfeinern kann – „verbessern“ im landläufigen Sinne scheint nur mehr schwer möglich!
Philipp Kronbichler
Bilder: Valery Gergiev (oben), Daniil Trifonov (unten), Wikipedia