von Umberto Giordano (1867-1948), Dramma di ambiente storico in vier Bildern, Libretto: Luigi Illica, UA: 28. März 1896 Milano, Teatro alla Scala
Regie: Michael Schulz, Bühne: Dirk Becker, Kostüme: Renee Listerdal
Dirigent: Francesco Angelico, Staatsorchester, Opernchor und Extrachor des Staatstheaters Kassel , Choreinstudierung: Marco Zeiser Celesti
Solisten: Rafael Rojas (Andrea Chénier), Hansung Yoo (Gérard), Vida Mikneviciute (Maddalena de Coligny), Marie-Luise Dreßen (Bersi/Idia Legray), Lona Culmer-Schellbach (Gräfin von Coigny/Madelon), Marc-Olivier Oetterli (Roucher), Szczepan Nowak (Haushofmeister/Dumas), Daniel Holzhauser (Pietro Fleville/Fouquier-Tinville), Hee Saup Yoon (Mathieu), Daniel Jenz (Incredibile), u.a.
Besuchte Aufführung: 9. September 2017 (Premiere)
Auf einem Ball der Gräfin de Coigny trägt der Dichter Andrea Chénier seine Werke vor, das führt zu großer Aufregung: er greift den Adel und seinen ausschweifenden Lebensstil an. Der Diener Gérard, der die Tochter des Hauses, Maddalena, heimlich liebt, stört mit einigen Revolutionären das Fest. Er wird zurückgeschlagen und entlassen. Obwohl Chénier mit den revolutionären Ideen sympathisiert, wird er aufgrund seiner Kontakte zum Adel bespitzelt. Sein Freund Roucher rät ihm zur Flucht. Der Dichter weigert sich wegen der Liebesbriefe einer geheimnisvollen Unbekannten, die er kennenlernen will. Sie entpuppt sich als Maddalena de Coigny. Es kommt zu einer Liebesszene, die vom Incredibile beobachtet und an den, mittlerweile zum Revolutionsführer aufgestiegenen, Gérard gemeldet wird. Im Duell mit Chénier wird Gérard verwundet. Nach seiner Genesung läßt er den Dichter verhaften und stellt ihn vor das Tribunal. Maddalena setzt sich für seine Rettung ein, kann aber das Todesurteil nicht verhindern. Während Andrea Chénier im Kerker auf seine Hinrichtung wartet, besticht Maddalena einen Wärter, sie anstelle einer verurteilten Delinquentin aufs Schafott zu schicken. Unter falschem Namen geht sie an der Seite ihres Geliebten in den Tod.
Aufführung
Die Kostüme sind von der französischen Revolution, dem Zeitpunkt der Opernhandlung, und der Zeit des Ancien Regime geprägt, jedoch sind sie eine Spur zu farbenfroh ausgefallen, so daß es zu grotesk verzerrten Bildern kommt. Darüber hinaus hat die Gegenwartskunst bei der aktuellen Documenta Einzug gehalten, dort kommen Verkehrszeichen als Waffen ins Bild. Die Bühne dreht sich schlicht und einfach um eine Rampe, wo Polsterstühle oder Holztische als Requisiten dienen. Auf der Rampe steht noch ein Bühnenportal, das sich mitdreht und so auch von hinten als Kulisse erkennbar wird.
Sänger und Orchester
Eine der Gründe warum Andrea Chénier seltener gespielt wird, ist sicherlich das große Problem, einen herausragenden Verismo-Tenor zu finden, der sowohl die lyrischen Momente, als auch die dramatischen, fast heldentenoralen Momente verbinden kann. Rafael Rojas erfüllt diese Anforderungen mit weicher, warmer und samtiger Stimme in herausragender Weise: Come un bel dì di Maggio – Wie ein schöner Tag im Mai. Hansung Yoo ist sein ebenbürtiger Gegenspieler Carlo Gerard, ein spielerisch sicherer Spielbariton. Für seine Arie Nemico della patria – Feind des Vaterlandes gibt es großen Szenenapplaus. Vida Mikneviciute ist die passende jugendliche Geliebte Maddalena. Ihr jugendlich, schwebend leichter Sopran hat sich verfestigt und erreicht ein großes lyrisches Klangvolumen. Die Stimmen der beiden Liebenden am Schluß verschlingen sich in echter Liebesglut. Als Maddalenas Vertraute Bersi kann der Mezzo von Marie-Luise Dreßen Schönklang verbreiten. Lona Culmer-Schellbach agiert glänzend mit ihrem großvolumigen, etwas matten, dramatischen Sopran als Grande Dame – sowohl als mondäne Gräfin Coigny, aber auch als Le miserable-Figur Madelon. Marc-Olivier Oetterli als Roucher ist ein durchschlagsstarker Bariton. Francesco Angelico hat das richtige Fingerspitzengefühl für den Verismo, für die lyrischen, aber auch dramatischen Momente. Er kann dem Staatsorchester Kassel einen italienischen, spielfreudigen Klang entlocken. Wahre Harmonien kommen gebündelt aus dem versenkten Orchestergraben! Eine überzeugende Figur macht auch der große Chor.
Fazit
Die Regie läßt jedes Feingefühl vermissen, wenn ein Kinderstatist am Ende des ersten Bildes der Gräfin de Coigny die Kehle durchschneidet. Das Publikum verweigert vor Schreck den Applaus. Nachdem die Gegenwartskunst der Documenta in Szene und Bild in Anklängen aufgenommen wird, muß man konstatieren, daß die belanglos brutale Inszenierung genauso wie die zeitgleich ablaufende Documenta phasenweise sehr bunt ist und mit großen Menschenmengen arrangierte Tableaus bietet, aber ansonsten meist langweilig und nichtssagend bleibt. Für die Regie gibt es nur mäßigen Applaus, während die großartige Leistung der Solisten, Chor, Orchester und musikalischer Leitung völlig zu Recht enthusiastisch gefeiert wird. Im Gesang eine Sternstunde für den Verismo in Deutschland.
Oliver Hohlbach
Bild: Nils Klinger
Das Bild zeigt: Marie-Luise Dreßen (Bersi), Mitglieder des Opernchores, Kinderstatist