Carmen
von George Bizet (1838-1875), Opéra comique in 4 Akten, Libretto: Henri Meilhac und Ludovic Halévy, nach der Novelle Carmen von Prosper Mérimée, UA: 3. März 1875 Paris, Opéra-comique (Salle Favart)
Regie: Kaspar Holten, Kostüme: Anja Vang Kragh, Licht: Bruno Poet, Video: Luke Halls, Choreographie: Signe Fabricius
Dirigent: Paolo Carignani, Wiener Symphoniker, Prager Philharmonischer Chor, Bregenzer Festspielchor, Kinderchor der Musikmittelschule Bregenz-Stadt, Choreinstudierung: Lukas Vasilek , Benjamin Lack.
Solisten: Daniel Johansson (Don José), Scott Hendricks (Escamillo), Gaelle Arquez (Carmen), Elena Tsallagova (Micaëla), Sonia Grane (Frasquita), Judita Nagyova (Mercédès), Adrian Clarke (Dancairo), Istvan Horvath (Remendado), Yasushi Hirano (Zuniga), Wolfgang Stefan Schwaiger (Moralès)
Besuchte Aufführung: 30. Juli 2017 auf der Seebühne
Mosè in Egitto – Moses in Ägypten
von Gioacchino Rossini (1792-1868), Azione tragico-sacra in drei Akten, Libretto: Andrea Leone Tottola
UA 7. März 1819 Neapel, Teatro San Carlo
Regie: Lotte de Beer, Bühne/Kostüme: Christof Hetzer
Dirigent: Enrique Mazzola, Wiener Symphoniker, Prager Philharmonischer Chor, Choreinstudierung: Lukas Vasilek
Solisten: Goran Juric (Mosè), Andrew Foster-Williams (Faraone), Clarissa Costanzo (Elcia), Sunnyboy Dladla (Osiride), Mandy Fredrich (Amaltea), Matteo Macchioni (Aronne), Dara Savinova (Amenofi), Taylan Reinhard (Mambre) u.a.
Besuchte Aufführung: 31. Juli 2017 (Festspielhaus)
Bregenz liegt an der Nahtstelle zwischen Deutschland und der Schweiz, zwischen dem Bodensee und den Alpen. Die Region Bregenzer Wald ist wegen seiner kulinarischen Angebote, Wanderausflügen (z.B. auf der Käsestraße), den Bade- und Schiffsmöglichkeiten, der herrlichen Natur (Mainau, Reichenau) sehr begehrt. So sind die Bregenzer Seefestspiele das Tüpfelchen auf dem I.
Am bekanntesten ist die Seebühne für 7.000 Personen, über die schon James Bond Toscas Auge jagte. Darüber hinaus gibt es kleinere Schauplätze wie das Festspielhaus (1.650 Plätze) und das Theater am Kornmarkt (550 Plätze). Neben der großen Oper auf der Seebühne, einer zweiten kleineren Opernproduktion im Festspielhaus, das sonst nur als Ausweichspielstädte für die Seebühne dienen würde, befinden sich im Portfolio noch kleinere Produktionen oder ein Opernstudio, um Nachwuchssängern Bühnenpraxis zu vermitteln – oder besser mit Regietheatereinfällen vertraut zu machen.
Aufführung, Sänger und Orchester
Die Opern auf der Seebühne der Bregenzer Festspiele haben immer etwas mit dem See zu tun. Auch für die Carmen in der Regie von Kaspar Holten finden sich Möglichkeiten: so fahren Schmuggler im Boot vor, das Ballett tanzt halb im Wasser und Don José wird seine Carmen im Bodensee ertränken. Vor diesem Finale gibt es zwei Stunden lang eine zirkusartige Unterhaltung, inklusive Feuerwerk, Hochgebirgsklettern am Seil im Bühnenbild, Stierkampf-Pantomime und auf die Spielkarten raffinierte Projektionen von assoziativen Bildern oder Großaufnahmen der Liebesszenen. Diese 62 Spielkarten (respektive Projektionsflächen) werden von Spielerhänden in die Luft geworfen. Es ragen zwei riesige, nicht sehr gepflegte Frauenarme aus dem Bodensee – abgestoßene lackierte Fingernägel und zittrige Tätowierungen fallen auf. In der linken Hand glimmt eine Zigarette – Carmen arbeitet schließlich in einer Tabakfabrik.
Carmen
Carmen ist rubinrot gekleidet, Fabrikarbeiterinnen blau, Ballett in Pink, das Militär zitronengelb (inklusive Don José), alle Gruppen farblich unterschieden, da kommt keine Verwirrung auf. Die Kostüme sind eine Mischung aus pseudo-spanischer Folklore und karibischen Feuer a la Fluch der Karibik – ergo sehr phantasievoll. Der Hauptverdienst von Kaspar Holten ist in all diesem Trubel und Gewimmel, daß die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Solisten gelenkt wird. Besonders die Solistinnen können beim Publikum punkten. Gaëlle Arquez kann den lasziven Ausdruck der Carmen sehr gut transportieren, Elena Tsallagova gibt eine sensationell umjubelte, jugendlich naive Micaëla vom Land. Genauso naiv sind Judita Nagyova (Mercedes) und Sonia Grane (Frasquita). Daniel Johansson gibt dem Don José eine kräftige Stimme, hat aber Probleme mit den hohen Tönen, klingt ab dem Übergang zur Kopfstimme sehr dünn und scharf. Scott Hendricks (Escamillo) oszilliert um die Töne herum, die er ungenau trifft, was über die Übertragungstechnik auch noch verstärkt wird. Paolo Carignani hätte ruhig etwas mehr Feuer bei den Solisten und den Wiener Symphonikern entfachen können, es wirkt etwas zu gehetzt. Dafür gelingt es ihm, die dramatischen Momente mit den pseudospanisch-französischen Klangbildern Bizets zu zelebrieren.
Das Interessante an der Oper Mosè in Egitto ist, daß sich große Tableaus wie Plagen oder Teilung des roten Meeres mit kammerspielartigen Szenen abwechseln. Die Oper wurde während der Fastenzeit in Neapel gespielt und hat neben dem Auszug der Hebräer aus Ägypten unter Moses eine tragische Liebesgeschichte zwischen dem ägyptischen Thronfolger Osiride und der Hebräerin Elcia zum Thema. Umgesetzt wird die Handlung in einer sandigen Wüstenlandschaft, der göttliche Wille wird durch Puppenspieler verdeutlicht, die die überdimensionalen Puppen tanzen lassen. Gleichzeitig bevölkern auch noch Chor und Solisten in pseudohistorischer Sandalenfilmkleidung die Szenerie, die unabhängig vom Puppenspiel handeln. Auf dem meist dunklen Hintergrundprospekt kann man auch Kugeln oder fließendes Wasser projizieren. Während sich Moses (Goran Juric) und der leicht beeinflußbare Faraone (Andrew Foster-Williams) mit eher wohlklingender tiefer Baßstimme streiten, haben Osiride (Sunnyboy Dladla) und Elcia (Clarissa Costanzo) ein wunderbar harmonisches Liebesduett ah, se puoi così lasciarmi – ach, wenn du mich so verlassen kannst. Dabei trifft ein jugendlich lyrischer, aber auch kräftig strahlender Tenor auf einen jugendlich dynamischen Sopran. Gewichtiges beizutragen hat auch Mandy Fredrich als Amaltea mit der Arie im zweiten Akt La pace mia smarrita – Der Friede ist mir entschwunden. Wenn auch in der szenischen Beweglichkeit indisponiert, kann sie stimmlich sehr bewegen.
Dirigent Enrique Mazzola zieht alles was möglich ist an Schönheiten, Dramatik oder Tobsuchtsanfällen aus diesem völlig zu Unrecht meist unbeachteten Meisterwerk Rossinis. Die Wiener Symphoniker folgen ihm hier bereitwilligst und kongenial.
Fazit
Die Inszenierung der Carmen arbeitet sich genau der tatsächlichen Handlung entlang, ist bunt, plakativ und zeigt immer wieder sehenswerte Bilder. Das hat eine sehr positive Folge: es bewahrt das Touristenpublikum und die Opernfreunde vor allerlei unverständlichen Regieeinfällen. Zusammen mit einer durchaus soliden musikalischen Produktion stellt man offensichtlich das Publikum zufrieden – heftigem Jubel. Zufriedenes Publikum macht auch positive Mundpropaganda und das beweisen auch die Zahlen: Alle Vorstellungen ausverkauft!
Als zweite Opernproduktion wurde Mosè in Egitto für das Festspielhaus ausgewählt. Diese Oper von Rossini ist nicht oft in den Spielplänen zu finden. Leider erfüllt die wenig verständliche und wirre Regie nicht die Anforderungen an eine Azione tragico-sacra – heilig-tragische Handlung wie Rossini sein Werk nannte. So gibt es eher ein Puppenspiel in einer Ausgrabungsstätte, aber keine biblischen Plagen und die Teilung des Roten Meeres nur als Projektion. Die Langeweile lenkt das Publikum von den musikalischen Kostbarkeiten Rossinis ab, aber für das Liebesduett im zweiten Akt gibt es Szenenapplaus, und die Preghiera (Gebet) der Israeliten zur Teilung des Roten Meeres ist ein echter Ohrwurm. Stürmischer Applaus für die seltene Aufführung, Mißachtung für die Regie und Puppenspieler.
2018 gibt es in Bregenz eine Oper des verfemten jüdischen Komponisten Berthold Goldschmidt, dessen Oper Beatrice Cenci dabei erst zum zweiten Mal eine Aufführung erlebt. Außerdem wird es im Festspielhaus eine in die Zirkuswelt verlagerte Kinderopern-Version der Carmen geben – mit Happy-End.
Oliver Hohlbach
Bild: Karl Forster
Das Bild zeigt: Carmen (Gaelle Arquez) mit Tänzerinnen