von Beat Furrer (* 1954), Oper in vier Episoden und 34 Szenen, Libretto: Händl Klaus nach einer Vorlage von Vladimir Sorokin in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg
Regie: Claus Guth, Bühnenbild: Étienne Pluss, Kostüme: Ursula Kudrna, Licht: Olaf Freese, Video: Arian Andiel, Dramaturgie: Yvonne Gebauer und Roman Reeger
Dirigent: Matthias Pintscher, Staatskapelle Berlin, Vocalconsort Berlin
Solisten: Anna Prohaska (Silvia), Elsa Dreisig (Natascha), Gyula Orendt (Jan), Georg Nigl (Peter), Otto Katzameier (Jacques), Martina Gedeck (Tanja, Sprechrolle)
Besuchte Aufführung: 13. Januar 2019 (Uraufführung)
Die Handlung entfaltet sich in einer apokalyptischen Umgebung. Es schneit ununterbrochen. Fünf Menschen sind vom Schnee eingeschlossen und ein Ende des Schneefalls ist nicht in Sicht. Sie geben sich ihren Betrachtungen und Träumen hin, die oft, wie im Falle Jacques, der sich und die anderem dem völligen Nichts gegenüberstehen sieht, von Sprach- und Hoffnungslosigkeit geprägt sind. Tanja erscheint und wird aufgenommen. Die Gruppe zerfällt zusehends. Gespräche oder regelrechte Dialoge finden kaum statt, während der Schnee immer weiter fällt. Als am Ende die Sonne aufgeht und ihr Licht den Schnee violett färbt finden sich alle in einer ihnen fremden Welt wieder und die Gruppe verschwindet.
Aufführung
Das Bühnenbild ist in zwei Ebenen unterteilt. Es gibt ein Zimmer mit langen Treppen, das in den Bühnenboden versenkt wird und dann den Blick auf die Oberfläche freigibt. Beide Schauplätze werden ständig leicht verändert. Das Zimmer ist der Raum für die Protagonisten, an der Oberfläche befinden sich neben ihnen viele Statisten im Schnee. Ein Bild, auf das auch das Libretto verweist und das in verschiedenen Formen immer wieder aufgegriffen wird, ist Pieter Bruegels Gemälde Die Jäger im Schnee von 1565. Es erscheint als Gemälde auf der Bühne, als große Videoprojektion und als Lebendes Bild: Figuren, die auf Bruegels Bild zu sehen sind, schreiten langsam von links nach rechts über die Bühne. Die übrigen stummen Figuren sind oft nur schemenhaft auszumachen. Neben dem Schneegestöber füllt nächtliches Dunkel die Bühne bis zum Ende. Die langen Treppen, die das unterirdische Zimmer mit der Welt an der Oberfläche verbinden, und die spärlich beleuchteten Szenen im Schnee haben ein surreales Gepräge.
Vorbemerkung zur Musik
Da es sich hier um ein neugeschriebenes Werk handelt, sind ein paar Worte über die Musik vonnöten, um die Leistungen von Sängern und Orchester angemessen beschreiben zu können. Furrers Musik hat eine wichtige Gemeinsamkeit mit dem Libretto: beide sind, wenn man das so kurz auf einen Nenner bringen darf, nicht vektoriell, also nicht auf einen bestimmten Punkt ausgerichtet, sondern kreisend angelegt; der Anfang der Oper wird textlich und musikalisch mehrfach am Ende wieder aufgenommen und gibt ihr so eine zyklische Gestalt. Der Text des Librettos besteht aus Andeutungen, einzelnen Worten und unvollständigen Sätzen – ein wenig wie im Theater des Symbolismus – und auch eine konventionelle Handlung gibt es nicht. Statt dessen werden seelische Zustände ausführlich beschrieben, und zwar zumeist in Form von Monologen, die oft nur eine Handvoll Wörter wiederholen.
Furrers Musik entspricht dem Text strukturell in mehrfacher Hinsicht: sie hat keine langen Melodien, die ja zielgerichtet sind, und keine festen Rhythmen, die eine Bewegung in eine bestimmte Richtung suggerieren können. Sie ist am besten als eine Aneinanderreihung von Klängen zu beschreiben, die in allen Farben schillern. Die instrumentalen Klangfarben werden ständig ineinander übergeblendet und bilden so kompakte harmonische Gebilde. Die Abstände zwischen den Tönen sind mitunter kleiner als ein Halbton, häufig sind Glissandi vorgeschrieben und neben unkonventionellen Spieltechniken kommen etliche Schlaginstrumente und ein Akkordeon zum Einsatz, die das Klangbild bereichern. Der Orchestersatz baut phasenweise stehende, aber im Detailniveau stets sich verändernde Klangflächen auf. Darin ähnelt er der sogenannten Spektralmusik. Die Sänger haben ihren Text nicht auf kantable Melodien zu singen, sondern tragen ihn in kurzen, oft abhackten Phrasen vor.
Sänger und Orchester
Die Staatskapelle Berlin unter Matthias Pintscher gab die harmonisch-klanglich virtuose Partitur mit ihren langen Spannungsbögen und ihren schnellen Läufen (etwa am Beginn) ohne erkennbare Schwierigkeiten wieder. Das Orchester steht musikalisch die gesamte Oper hinweg im Mittelpunkt des Geschehens. Von den Solisten stachen am meisten der Baßbariton Otto Katzameier in der Rolle des Jacques und Martina Gedeck in der Sprechrolle der Tanja hervor, die ihre Verse rhythmisch genau in den komplexen Instrumentalklänge zu plazieren hat. Sie wurde – wie wohl auch Katzameier in einigen tiefen, leisen Gesangspassagen – elektronisch verstärkt. Die übrigen Partien verlangen Sicherheit in der Tongebung und Intonation, enthalten aber keine spektakulären Passagen, die den Sängern Gelegenheit geben würden, stimmlich zu brillieren.
Auch schauspielerisch besteht angesichts der eher kurzen Ansätze einer Handlung und der langen Betrachtungen der Protagonisten wenig Möglichkeit dafür. Beeindruckend ist die Sicherheit der Sänger in ihren Partien mit den schwer zu memorierenden Versen und kurzen Melodieversatzstücken. Das Vocalconsort Berlin, ein Projektchor, bleibt während der Aufführung unsichtbar. Sein Part verschmilzt zu Beginn vollkommen mit dem Orchestersatz. Am Ende, in der vierten Episode, tritt er mit einem lateinischen Chorsatz in den Vordergrund.
Was sämtlichen Musikern gelingt, ist diese etwa eine und dreiviertel Stunden lange Oper mit ihrer rätselhaften, verstörenden Handlung über die gesamte Länge hinweg mit höchster Spannung vorzutragen, die sich auch auf die Zuschauer übertrug. Die Konzentration aller Beteiligten vor und auf der Bühne war vor allem bei den fast unhörbar leisen Stellen mit Händen zu greifen.
Fazit
Furrers neueste Oper ist sicherlich keine leichte Kost. Die Unbestimmtheit des Librettos überläßt es dem Zuschauer, ob man das Stück als einen bedrückenden Alptraum, eine eingehende psychologische Schilderung von Hoffnungslosigkeit und Resignation oder womöglich sogar als eine politische Parabel über den Verlust von Sprache und Dialog verstehen will. Der Regisseur Claus Guth läßt diese Vieldeutigkeit bestehen und versieht die Oper mit eindrücklichen Bildern. Es erwartet einen sicherlich kein heiterer Abend, wenn man diese Aufführung sieht, sondern eine starke musiktheatralische Erfahrung, in der Musik, Text und Bühnenbild eine unauflösbare Einheit bilden. Das Stück zu sehen und zu hören verlangt Konzentration. Wenn man dazu bereit ist, lassen sich in der Unmenge von Klängen Momente von großer Schönheit ausmachen, die im transparenten Zusammenspiel von Sängern und Orchester flüchtig aufscheinen.
Dr. Martin Knust
Bild:Monika Rittershaus
Das Bild zeigt: Gyula Orendt (Jan), Anna Prohaska (Silvia), Georg Nigl (Peter) und Ensemble