von Jörg Widmann (* 1973), Oper in sieben Bildern, Libretto: Peter Sloterdijk
Inszenierung: Andreas Kriegenburg, Bühnenbild: Harald Thor, Kostüme: Tanja Hofmann, Licht: Olaf Freese, Video: Robert Pflanz, Choreographie: Zenta Haerter, Dramaturgie: Roman Reeger
Dirigent: Christopher Ward, Staatskapelle Berlin, Staatsopernchor, Einstudierung: Martin Wright und Anna Milukova
Solisten: Susanne Elmark (Inanna), Mojca Erdmann (die Seele), Charles Workman (Tammu), John Tomlinson (der Priesterkönig), Marina Prudenskaya (der Euphrat), Andrew Watts (der Skorpionmensch), Otto Katzameier (der Tod), Felix von Manteuffel (Ezechiel, Sprechrolle), Arne Niermann (der Bote, ein Kind)
Besuchte Aufführung: 9. März 2019 (Uraufführung der revidierten Fassung)
Die Handlung spielt zur Zeit des babylonischen Exils des Volkes Israel. Zu Beginn verflucht der Skorpionmensch auf den Trümmern einer antiken Stadt die städtische Zivilisation. Tammu, der Bruder der Seele, ist Jude und begehrt die Priesterin Inanna, die die babylonische Göttin der Lust verkörpert. Sie gibt ihm eine Droge, die ihm im Traum das Wesen der Stadt und der Liebe zeigen soll. Sein Traum zeigt ihm die babylonische Sintflut, in der der Euphrat die Stadt zerstörte und den Aufstieg des Priesterkönigs, der den Fluß mit einem jährlichen Menschenopfer zähmt. Während die Babylonier ein orgiastisches Fest feiern, beginnen die Juden mit der Niederschrift des Alten Testamentes. Der Prophet Ezechiel diktiert die Offenbarungen, die er empfangen hat. Unterdessen wird verkündet, daß es in diesem Jahr Tammu ist, den man den Göttern opfern wird. Während das Opfer vollzogen wird, beginnen die Juden aufzubegehren. Inanna begibt sich in die Unterwelt zu der Schwester Tod und erwirkt die Rückkehr Tammus ins Leben. Die Vereinigung von Tammu in Inanna besiegelt einen neuen Bund zwischen Himmel und Erde. Die Seele löst sich in Licht auf. Im Schlußbild sticht sich der Skorpionmensch selber und zwei Kinder singen einen Abzählreim.
Aufführung
Das versenkbare Bühnenbild zeigt düstere Gänge und Hohlräume einer unterirdischen Stadt. Außer den authentischen Kostümen der Juden mit Kippa und Gebetsmantel sind die Kostüme individuell und fantastisch frei, d.h. sie nehmen keine historischen Vorbilder auf. Ein gewisser Hang zum ‚Trashigen‘ ist nicht zu verkennen. Das gilt vor allem für die Kostüme der Schwester Tod und die vielen stummen Komparsen und Choristen, die die senkrechte Szene bevölkern. Trotz der vorherrschenden Dunkelheit auf der Bühne bleibt ein farbiger und abwechslungsreicher Gesamteindruck. Am eindrucksvollsten war das wabernde Kostüm des Euphrat. Viele Regieanweisungen des Librettos, das u.a. apokalyptische Meteoritenschauer auf der Bühne vorsieht, bleiben unberücksichtigt.
Vorbemerkung
Zwar ist das Werk nicht ganz neu – die Uraufführung erfolgte bereits 2012 in München –, aber auf Anraten Daniel Barenboims hat der Komponist Jörg Widmann seine Oper einer umfangreichen Überarbeitung unterzogen, die nicht nur die Musik, sondern auch die Handlung verändert hat.
Die Babylon!-Chorsätze sind Widmanns Messe für großes Orchester von 2005 entnommen.
Was seine Partitur auszeichnet ist ein ausgesprochen unberechenbarer Stilpluralismus. Jederzeit – und zwar vorzugsweise am Ende der sieben Bilder – kann die Musik unmittelbar von schärfsten Dissonanzen in einen ausgesprochen populistischen Stil kippen, der mitunter an Musicalmelodien oder spätromantisch instrumentierte kontrapunktische Studien erinnert, z.B. bei den Zwiegesängen von Inanna und Tammu. Auch ein Bierzeltmarsch kommt in der Orgie im 3. Bild vor.
Ein weiteres Charakteristikum der Partitur ist die sehr hohe Lage der Partien von Solisten und Choristen und die über weite Strecken enorme Lautstärke. Widmanns virtuose Fähigkeiten als Orchestrator kommen ihm hierbei zugute. Auch elektronische Musik kommt am Ende vor. Bei dieser Gelegenheit kam das neue 3D-Soundsystem der Staatsoper zum Einsatz, das es erlaubt, Klänge in alle Richtungen durch den Zuschauerraum zu schicken, unabhängig davon, wo sich der Sitzplatz des Hörers befindet.
Eine große Herausforderung für beinahe sämtliche Sänger ist, daß sie nicht nur zu singen, sondern auch zu sprechen und dazwischen in unterschiedlichen Graden zwischen Singen und Sprechen zu modulieren haben. An einigen Stellen ist z.B. laut zu flüstern, solo und im Ensemble. Die Aussprache aller Sänger ist sehr deutlich.
Sänger und Orchester
Die Staatskapelle Berlin unter Christopher Ward spielt an diesem Abend mit verstärktem Schlagwerk. Auch von den Instrumentalisten verlangt die Partitur nicht selten das Spiel in extrem hohen Lagen. Die oft stark kontrastierenden Klangblöcke – auf einen dissonant-grellen Höhepunkt mit viel Schlagwerk folgt mitunter eine strahlende, tonale Akkordreihe oder ein gedämpfter, warmer Klang – werden souverän miteinander verbunden. Sämtliche weibliche Hauptpartien – Susanne Elmark (Inanna), Mojca Erdmann (die Seele) und Marina Prudenskaya – leisten Außerordentliches. Das darstellerische Spiel von Marina Prudenskaya (der Euphrat)in ihrer langen Arie über die Flut war beeindruckend. Neben ihr machte Otto Katzameier in seiner Rolle als seiner Aufgabe überdrüssiger Tod darstellerisch die beste Figur. John Tomlinson gab einen würdevollen Priesterkönig und tat sich mit seinem detailliert ausgearbeiteten Wortvortrag hervor. Charles Workman als Tammu hat eine Tenorpartie zu bewältigen, die sich oft in unbequemen Lagen bewegt, was ihm gelang, auch wenn er die Anstrengung der Lagenwechsel ins höchste Register nicht ganz kaschieren konnte. Hervorzuheben ist die sängerische Leistung des Knabensoprans Arne Niermann (der Bote, ein Kind). Der Part des alttestamentlichen Propheten Ezechiel ist eine teilweise melodramatische Sprechrolle, die Felix von Manteuffel kraftvoll und ausdrucksstark vortrug. Der Umstand, daß die Szene nur eine kleine Fläche in der Horizontale ausfüllte und die Sänger statt dessen übereinander positioniert waren, erleichterte die Wiedergabe der oft lauten Chorpassagen und verlieh ihnen noch mehr Wucht. Der Staatsopernchor leistete hier ganze Arbeit.
Fazit
Das Publikum war von dieser Oper sichtlich angetan. Das mag erstaunlich anmuten angesichts der Tatsache, daß Musik und Text nicht unbedingt leicht zugänglich sind. Die allegorische Handlung, die sich aus einer Fülle von biblischen und mythologischen Motiven speist, ist von Sloterdijk recht statisch dramatisiert worden. Regelrechte Dialoge oder dramatische Entwicklungen kommen nicht vor, und das Werk Widmanns gleicht dann auch mehr einem Oratorium als einer Oper.
Die Regie kam dem entgegen, indem beinahe den ganzen Abend frontal ins Publikum hineingesungen wurde wie in einem Konzert. Widmanns Musik will überwältigen und bietet eine Fülle an kraftvollen Klängen. Für diese Produktion konnten Sänger gewonnen werden, die über die mitunter langen musikalischen Strecken zu tragen vermögen und die darstellerisch in ihren Rollen aufgehen. Den Zuschauer erwartet wie die Hauptfigur Tammu eine traumhafte, aufwühlende musikalische Reise, in welcher humoristische Einschläge genauso ihren Platz haben wie den Kitsch streifendes Pathos. Sicherlich kein Werk für jedermann, aber, sofern man sich darauf einzulassen bereit ist, musikalisch sehr stark.
Dr. Martin Knust
Bild: Arno Declair
Das Bild zeigt: Otto Katzameier (Der Tod) und Ensemble