von Jules Massenet (1842-1912), Opéra-comique in fünf Akten, Libretto: Henri Meilhac und Philippe Gille nach dem Roman: Histoire de Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut von Abbé Prévost, UA: 19. Januar.1884 Paris, Opéra-Comique, Salle Favart
Regisseur: Olivier Py, Bühne/Kostüme: Pierre-André Weitz und Daniel Izzo, Choreographie: Daniel Izzo,
Dirigent: Marc Minkowski, Orchestre Les Musiciens du Louvre, l’Académie des Musiciens du Louvre et le Jeune Orchestre de l’Abbaye (Saintes), Chor de l’Opéra National de Bordeaux, Chorleitung: Marine Thoreau La Salle
Solisten: Patricia Petibon (Manon Lescaut), Frédéric Antoun (Le chevalier Des Grieux), Jean-Sébastien Bou (Lescaut), Damien Bigourdan (Guillot de Morfontaine), Philippe Estèphe (Monsieur de Brétigny), Laurent Alvaro (Le comte Des Grieux), Olivia Doray (Poussette), Adèle Charvet (Javotte), Marion Lebègue (Rosette)
Koproduktion mit dem Grand Théâtre Genf und der Opéra National de Bordeaux
Besuchte Vorstellung: 16. Mai 2019 (Premiere 7. Mai 2019)
Auf dem Weg ins Kloster trifft Manon in Amiens zufällig den Chevalier Des Grieux. Beide sind auf der Stelle ineinander verliebt. Sie fliehen nach Paris und beziehen eine gemeinsame Wohnung. Wegen Geldmangels gibt Manon dem Drängen des reichen Brétigny nach. Er und ihr Vetter Lescaut hatten Des Grieux‘ Vater informiert, der seinen Sohn entführen ließ. Danach lebt Manon mit Brétigny zusammen. Auf dem Stadtfest auf dem Cour de la Reine (heute Champs-Élysées) wird sie Zeuge eines Gesprächs zwischen Des Grieux‘ Vater und Brétigny. Dabei erfährt sie, daß Chevalier Des Grieux Priester werden will und heute seine erste Predigt in St. Sulpice halten wird. Sofort eilt sie zur Kirche, und es gelingt ihren weiblichen Verführungskünsten, Des Grieux wiederzugewinnen. Doch das aufwendige Leben beider veranlaßt Manon, Des Grieux zum Kartenspiel zu drängen. Als er gegen Guillot gewinnt, klagt dieser ihn des Falschspielens an. Manon und er werden verhaftet. Des Grieux‘ Vater erreicht die Freilassung seines Sohns, doch Manon wird nach Amerika verbannt. Auf dem Transport nach Le Havre kann Des Grieux sie von den Mitgefangenen trennen. Aber die erschöpfte Manon stirbt auf der Straße in seinen Armen.
Aufführung
Hohe Hotels mit Neonreklamen bilden einen kleinen Platz auf dem halbnackte Prostituierte sich treffen. Sie amüsieren sich mit den Männern, indem sie sich auf deren Rücken setzen, während diese sich auf allen Vieren vorwärtsbewegen. Dann erscheint eine Menge Reisende mit Koffern, die die Postkutsche von Amiens nach Paris besteigen wollen. Auf der Bühne sind vier Zimmer zu sehen, je zwei übereinander angeordnet. In einem der Zimmer halten sich die leicht bekleideten Prostituieren auf, in einer anderen Manon. Diese hat ihr graues Oberkleid ausgezogen. Darunter sieht man einen blutroten Unterrock. Nur mit rotem Unterrock bekleidet trifft sie auf der Straße Chevalier Des Grieux. Beim Fest auf dem Cours de la Reine steht mitten auf einer Tribüne Manon in einem goldfarbenen, schulterfreien Paillettenkleid. Drumherum sieht man mit eine Menge Damen in Rüschenkleidern und bunten, blumenbesetzten Hüten und Herren.
Szenenwechsel zur Kirche St. Sulpice. Des Grieux in schwarzem Hemd und schwarzer Hose sitzt an einem kleinen Tisch mit einem Gebetbuch vor sich. Gleichzeitig erscheint eine nackte Frau als Schatten. An der hohen Wand im Hintergrund hängt ein Kreuz. Manon tritt auf in engem, dunkelblauem Kleid und schwarzen Seidenstrümpfen. Später im Spielsalon sieht man Des Grieux in einem rüschenbesetzten, rosenroten Kleid mit Federbusch auf dem Kopf am Spieltisch mit Guillot. Daneben Manon in Hosen mit Reitstiefeln. Darüber trägt sie einen taillierten Rokokomantel, alles rosarot wie ihr Geliebter. Die Schlußszene ist auf der Straße. Manon trägt ein schulterfreies, graues, perlmuttbesetztes Kleid und liegt auf dem Boden in den Armen Des Grieux‘.
Sänger und Orchester
Der erfahrene Dirigent Marc Minkowski hat das Orchester gut im Griff indem er den lärmenden Beginn des Prélude, gefolgt von Manons Motiv kontrastreich darstellt und in eleganter Manier den Soldatenmarsch folgen läßt. Auffallend ist die rhythmische Stabilität und die subtile dynamische Energie, die Minkowski den ganzen Handlungsverlauf durchzuhalten weiß.
Im anschließenden spaßigen Streit von Damien Bigourdan (Brétigny), Philippe Estèphe (Guillot), den „leichten“ Mädchen Olivia Doray (Poussette), Adèle Charvet (Javotte), Marion Lebègue (Rosette) sowie dem Hotelier, der das Essen trotz dauernden Bittens nicht serviert, ist ein gut abgestimmtes Ensemble mit perfekter Intonation und Rhythmik zu erleben. Bemerkenswert war, daß man trotz der engen Stimmführung alle Worte gut verstehen konnte. Kein Vergleich zu anderen Aufführungen.
Große Freude bereitet Patricia Petibons (Manon Lescaut) Auftritt. Manon ist eine Paraderolle vieler Sopranistinnen. Doch kaum eine von ihnen trifft das französische Timbre, das so schwierig für Nicht-Franzosen ist. Es braucht ungemein viel Einfühlung. Das besitzt diese Sängerin im Übermaß. Allein wie sie mit allem femininen Charme ihrem Vetter gegenüber die Ermüdung der langen Kutschfahrt schildert je suis encore tout engourdie – ich bin noch ganz betäubt´…. Die Spitzentöne g‘‘ und a‘‘ sind von einer Klarheit und Klangschönheit, über welche nur wenige Sopranistinnen verfügen. Hinzu kommt noch eine untadelige Aussprache. Die überraschend auftauchenden, geradezu akrobatischen Koloraturen verwirklicht sie perfekt! Manon ist eine kräfteverschleißende Rolle, da sie fast in jeder Szene auftritt. Die französische Sängerin bewährt sich dabei scheinbar mühelos bis zum End der Oper.
Frédéric Antoun (Chevalier Des Grieux) ist ihrem Können ebenbürtig. Seine Tenorstimme ist klar und besitzt große Sensibilität. Nirgendwo forciert er, etwa bei Spitzentönen. So bereitet die Traumvorstellung En fermant les yeux je vois là bas une humble retraite – indem ich die Augen schloß sah ich dort unten ein einfaches Häuschen mit der er Manons Notre petite table – unser kleiner Tisch (2. Akt, Szene 4/5) beantwortet, ein großes Gefühl der Ruhe, und keiner der Spitzentöne wird dabei erzwungenWie bei Patricia Petibon zeichnen sich seine Spitzentöne mit großer Sanftheit und Wärme aus. Es ist eine reine Freude, ihm zuzuhören!
Bleibt noch darauf hinzuweisen, daß Jean-Sébastien Bou (Lescaut), Damien Bigourdan (Guillot de Morfontaine), Philippe Estèphe (Monsieur de Brétigny) in ihren Rollen und der Gestaltung ihres Gesang comme il faut waren. Nicht zuletzt sollte man die gekonnte Darstellung mit wohllautender Baßbaritonstimme der Vaters des Chevalier, Laurent Alvaro (Le comte Des Grieux) hervorheben.
Fazit
Vielleicht sind die zahlreichen Szenenbilder, die der kluge Regisseur Olivier Py dem Zuschauer zumutet, doch ein wenig übersetzt. Aber das Rotlichtmilieu der Belle Epoche wird damit erlebbar. Die Ausbreitung der bittersüßen Liebesgeschichte voller Bigotterie und Verzweiflung, insbesondere zwischen Manon und dem Chevalier Des Grieux, verweist auf die Jetztzeit. Gute Idee, im vorletzten Akt Des Grieux in Frauenkleider und Manon in einen Hosenanzug zu stecken.
Mit dem Orchester und den Solisten erlebt man Sternstunde. Endlich erhält die Musik Massenets ihr adäquates französisches Timbre. Allermeist wird sie in der Manier eines Verdi oder Puccini geliefert. Mit Schaudern erinnert sich der Unterzeichner der Manon-Aufführung der Berliner Lindenoper vom 26. April 2007 mit Anna Netrebko (Manon) und Rolando Villazón (Chevalier Des Grieux) unter Daniel Barenboims Stabführung. Obwohl die meisten Zeitungen die Vorstellung lobten, war sie – gelinde gesagt – eine Katastrophe.
Nein, nur Franzosen wissen diese elegante, subtile, filigrane Musik zu gestalten. Neben der Sternstunde des Gesangs auch eine Lehrstunde für die französische Oper des 19. Jahrhunderts!
Dr. Olaf Zenner
Bild: Stefan Brion
Das Bild zeigt Patricia Petibon (Manon Lescaut), Frédéric Antoun (Le chevalier Des Grieux) in der Kirche St. Sulpice.