Fürst Igor – Paris, Opéra Bastille

von Alexander Borodin (1833–1887), Oper in vier Akten, Libretto: der Komponist, UA: 4. November 1890 St. Petersburg

Regie: Barrie Kosky, Bühnenbild: Rufus Didwiszus, Kostüm: Klaus Bruns, Licht: Franck Evin, Choreographie: Otto Pichler

Dirigent: Philippe Jordan, Orchester und Chor der Opéra national de Paris, Chorleitung: José Luis Basso

Solisten: Ildar Abdrazakov (Fürst Igor), Elena Stikhina (Fürstin Jaroslawna), Pavel Černoch (Wladimir), Dmitri Uljanow (Fürst Galitzky), Dmitri Iwaschtschenko (Kontschak), Anita Rachvelischwili (Kontschakowa), Adam Palka (Skula), Andrej Popow (Jerosch), Wassili Efimow (Owlur), u.a.

Besuchte Aufführung: 28. November 2019 (Premiere)

Kurzinhalt

Die Stadt Putwyl liegt an der Grenze von Rußland und dem Gebiet der Polowetzer und wird von den Polowetzern, einem Nomadenvolk aus Zentralasien, immer wieder angegriffen. Fürst Igor beschließt, sie zu bekämpfen. Als er sich anschickt, in den Krieg zu ziehen, verfinstert sich die Sonne. Er übergibt seiner Frau Jarowslawna und deren Bruder Fürst Galitzky die Regierungsgeschäfte. Viele Wochen vergehen, ohne daß eine Nachricht von seinem Feldzug in Putwyl eintrifft. Fürst Galitzky ergeht sich in Gelagen und entführt Frauen. Als seine Schwester ihn zur Rede stellt, gesteht er ihr, Igor absetzen und sich selbst zum Fürsten ausrufen lassen zu wollen. Bevor es dazu kommt, wird die Stadt von den Polowetzern eingenommen. In der nächtlichen Steppe beklagen die gefangenen Russen ihr Schicksal. Igors Sohn Wladimir und die Tochter des Khans Kontschak verlieben sich ineinander. Owlur, ein getaufter Polowetzer, bietet Igor Hilfe zur Flucht an, der jedoch vorerst noch als eines Fürsten nicht würdig ablehnt. Der Khan möchte Igor als Bundesgenossen gewinnen, doch der lehnt ab. Die Polowetzer feiern ihren Herren mit Tanz und Gesang. Angesichts des Elends seiner Landsleute faßt Igor den Beschluß, Owlurs Angebot anzunehmen. Als im Lager ein Aufruhr ausbricht, flieht er heimlich. Khan Kontschak zeigt sich jedoch nachsichtig und läßt ihm nicht nachsetzen. Außerdem erlaubt er Igors Sohn, seine Tochter Kontschakowa zu heiraten. In Putwyl macht sich inzwischen Verzweiflung breit. Die beiden Trunkenbolde Skula und Jerosch sehen jedoch in der Ferne ihren Fürsten heranreiten und rufen die Bevölkerung der Stadt zusammen, die ihm einen triumphalen Empfang bereitet.

Aufführung

Die Inszenierung verzichtet auf jegliches historische oder geographische Kolorit. Russen und Polowetzer sehen identisch aus, d.h. sie treten in zerrissenem Söldnerlook auf. Putwyl ist ein Garten mit Swimmingpool und statt in der weiten Landschaft spielt die Handlung im zweiten Akt in einem Folterkeller aus Beton. Es wird viel gequält, getreten, kollabiert und mit Maschinengewehren herumgefuchtelt. Einige Hauptrollen, etwa Fürstin Jaroslawna, haben nach beinahe jedem Phrasenende ihrer Gesangspartie in Ohnmacht zu fallen. Igors zweiter Monolog – der eigentlich im dritten Akt vorkommt, hier aber in den vierten verpflanzt wird – wird durch die nach Art des Mickey-Mousing eng an die Musik gekoppelte, redundante Gestik unfreiwillig komisch: jedes Mal, wenn er im Refrain seines Monologs sein Schicksal beklagt und das Tempo zunimmt, hat er sich schwer leidend an den Kopf zu fassen und zu beben, was das Publikum nach zwei Strophen auch begriff; leider sind es aber insgesamt vier. Bei der Ouvertüre, die aus irgendeinen Grund erst jetzt erklang, blieb der Vorhang dankenswerterweise unten, der dritte Akt wird bis auf den Monolog Igors komplett eliminiert und am Ende, das auf einer dunklen Autobahn spielt, macht sich die Regie dann vollends über das Libretto lustig. Statt ihren Fürsten zu begrüßen, setzen sich die Russen gegenseitig einen gelben Plastikeimer auf und albern herum.

Großartig ist die lebendige und abwechslungsreiche Choreographie Otto Pichlers, die von der vorhersehbaren Personenregie Barrie Koskys, mit der sich die Solisten sichtlich unwohl fühlen, absticht.

Sänger und Orchester

Philippe Jordan dirigierte die spektakuläre Partitur kultiviert und kontrolliert. Das Orchester der Opéra Bastille lieferte eine starke Leistung im Blech ab; den Streichern fehlte es jedoch bei den schnellen Läufen ein wenig an artikulatorischer Leichtigkeit. Umwerfend waren die Chöre in der Einstudierung José Luis Bassos. Sie spielen in dieser Oper die eigentliche Hauptrolle. Ebenfalls brillant waren die Tänzer. Am Ende des zweiten Aktes, den berühmten Polowetzer Tänzen, machte sich für einen Moment sogar ein wenig Freude und Vitalität auf der Bühne breit, wenn auch ohne jeglichen Zusammenhang mit dem Übrigen der Inszenierung.

Ildar Abdrazakov (Fürst Igor) gab die Titelrolle stimmlich ausgeglichen, hat aber durch seine zahlreichen Zitteranfälle und seine permanent schmerzverzerrte Miene wenig darstellerischen Spielraum zur Gestaltung seiner Rolle. Elena Stikhina (Fürstin Jaroslawna) sang ihre Partie energisch und gab sich alle Mühe, auch den Vorgaben der Regie Genüge zu leisten, die ihr u.a. eine gewaltige Perücke aufsetzte, unter der sie bei ihren vielen Zusammenbrüchen am Boden liegend förmlich verschwand. Pavel Černoch (Wladimir) und Anita Rachvelischwili (Kontschakowa) sangen ihre durch die Streichung des dritten Aktes arg verstümmelten Partien kraftvoll; bemerkenswert und ungewöhnlich ist die enorm voluminöse Tiefe dieser Sängerin, die mit ihren tiefsten Tönen den riesigen Saal der Pariser Oper ausfüllte und das Orchester übertönte. Dmitri Iwaschtschenko (Kontschak), der im Gegensatz zu allen anderen Rollen an diesem Abend in einem Anzug auftreten durfte, hatte keinen edelmütigen Khan, sondern einen sadistischen Mafiaboß zu verkörpern, was ihm stimmlich und schauspielerisch überzeugend gelang. Dmitri Uljanow (Fürst Galitzky) agierte so grobschlächtig, wie von der Regie verlangt. Für ihn wie viele andere Figuren in dieser Produktion gilt jedoch: leider hat man all diese Spielarten von Brutalität und Leiden schon sehr oft auf der Opernbühne gesehen. Die abrupten Wechsel von Ruhe und hektischer Aktion wirkten unorganisch. Adam Palka (Skula) und Andrej Popow (Jerosch), die die beiden burlesken Rollen der Oper gaben, waren musikalisch wie darstellerisch gut aufeinander eingespielt.

Fazit

Sicherlich muß man diese Oper nicht als historisches Kostümdrama inszenieren. Möglicherweise gibt sie auch eine Lesart gegen den Strich her. Aber so plump geht es nicht. Daß die Regie es auf eine unerbittliche Dissonanz zwischen der farbigen, folkloristischen, atmosphärischen Musik Borodins und dieser düsteren, ja, am Ende völlig nihilistischen Inszenierung anlegte, mag einer tieferen Logik folgen, die aber an diesem Abend gänzlich im Verborgenen blieb. Dem Publikum, das bereits während der Vorstellung den Saal verließ, mißfiel sie jedenfalls zutiefst. Angesichts der entstellenden Eingriffe in das Libretto und der die originale Handlung ersetzenden unzusammenhängenden Geschichte, die man auf die Formel „Durch‘s Dunkle in die Finsternis“ bringen könnte, kann man es den Parisern auch nicht verdenken. Schon erstaunlich, daß ein derart hochdekorierter Regisseur dazu in der Lage ist, ein derart uninspiriertes Stück Schultheater abzuliefern.

Dr. Martin Knust

Bild: Agathe Poupeney / Opéra national de Paris

Das Bild zeigt: Elena Stikhina (Iaroslavna) und Ildar Abdrazakov (Prince Igor)

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