Carlo Il Calvo – Bayreuth, Bayreuth Baroque Opera Festival

von Antonio Porpora (1686-1768), Dramma per musica in drei Akten, Libretto anonym nach Francesco Silvani, UA: Rom 1738, Teatro delle Dame

Regie: Max Emanuel Cenčić, Bühne: Giorgina Germanou und Kostüme: Maria Zorba

Dirigent: George Petrou (auch Cembalo), Armonia Atenea

Solisten: Max Emanuel Cenčić (Lottario, Sohn Ludwigs des Frommen), Franco Fagioli (Adalgiso, Sohn Lottarios, Verlobt mit Gildippe), Suzanne Jerosme (Giuditta, Carlos Mutter, Zweite Frau Ludwigs des Frommen), Nian Wang (Eduige, Giudittas Tochter), Julia Lezhneva (Gildippe, Zweite Tochter Giudittas, Verlobte Adalgisos), Bruno de Sa (Berardo, Spanischer Fürst und Familienanwalt), Petr Nekoranec (Asprando, Begleiter Giudittas, Carlos Vater), u. a.

Besuchte Aufführung: 3. September 2020 (Premiere)

Vorbemerkung

Eine neue Festspielzeit in Bayreuth? Ganz ohne Wagner?

Die vom Bayreuther Kulturreferenten Benedikt Stegmayer initiierte „Bayreuth Baroque“ beschäftigt sich mit dem barocken Opernhaus der Bayreuther Markgräfin Wilhelmine. Sie soll die adäquate Nutzung des Hauses vorführen und so eine weitere Zielgruppe von Festspielgästen (also zeitlich nach den Wagnerianern) jedes Jahr Anfang September in die Stadt bringen.

Als künstlerischer Leiter konnte Max Emanuel Cenčić gewonnen werden. Dieser ist nicht nur ein begnadeter Countertenor unserer Tage, sondern hat schon mehrfach barocke Opern auf die Bühne gebracht, wie zum Beispiel zu den Händel-Festspielen in Karlsruhe. Nicht mit den Mitteln eines historisch informierten Barocktheaters arbeitet er, sondern im Stile des modernen Regietheaters. In diesem Falle wurde mittels der Produktionsgesellschaft „Parnassus Arts“ unter der Mithilfe des musikalischen Dramaturgen Boris Kehrmann die Oper Carlo il Calvo in Athen einstudiert. Dort wurden auch alle Bühnenmaterialien hergestellt. Diese Bühnenausstattung wurde dann knapp eine Woche vor den Aufführungen nach Bayreuth gebracht, dort eingerichtet und im Rahmen des Bayreuth Baroque dreimal aufgeführt. Im Umfeld dieses Opernhauses gibt es nämlich keine Produktionsanlagen, alles muß extern produziert werden. Geprobt und eingeleuchtet werden kann alles aber nur auf der Bühne direkt. Dazu muß das „Museum Opernhaus“ von der Bayrischen Schlösser und Seen Verwaltung für teures Geld gemietet werden. Diese will das Haus nur noch eingeschränkt zur Nutzung freigeben. Daher ist es fraglich, ob man das Haus in den nächsten Jahren weiterhin nutzen kann. Finanziell ist man bei maximal 525 Karten pro Vorstellung (bei Corona nur etwas mehr als 200) auf Zuschüsse angewiesen. Musikalisch ist diese Produktion ein voller Erfolg.

Kurzinhalt

Der historische Hintergrund: Kaiser Ludwig der Fromme heiratete nach dem Tod der ersten Frau Irmgard (mit der er den Sohn Lottario hatte) zum zweiten Mal Giuditta, die ihm den Sohn Karl gebar. Während Lottario Mitkaiser wurde, wurde später der sechsjährige Karl Herrscher über Gebiete, die man Lottario entzog. Die Oper beschreibt die Auseinandersetzungen zwischen den Familien dieser beiden Söhne, die mit einer Entführung Karls, der Behauptung Karl sei kein Sohn des Kaisers und einigen barockopertypischen Liebesgeschichten den Boden der Historie verläßt – aber für Spannung auf der Bühne sorgt. Am Ende einigt man sich auf eine Teilung der Herrschaftsgebiete.

Aufführung

Da es im Markgräflichen Opernhaus nur eingeschränkte Möglichkeiten für eine Bühnentechnik gibt, das Haus als Museum nur wenige Tage für den Aufbau und das Ausleuchten der Kulissen zur Verfügung steht, ist nur eine mehr statische Aufführung möglich. Bei geschlossenem Vorhang kann der große Schlußprospekt, die beiden Seitenkulissen und das Mobiliar auf der Bühne ausgetauscht werden. Auch aus akustischen Gründen wird meist an der Rampe gesungen, während die zahlreichen Aktionen der Statisterie im Hintergrund ablaufen. Für längere Umbaupausen, einmal wird ein Oldtimer-Automobil auf die Bühne geschoben, verschiebt man auch die Aktschlüsse.

Das Bühnenbild zeigt verschiedene Räume eines herrschaftlichen Anwesens der zwanziger Jahre. Die Verbindung zu mafiosen Strukturen ist augenfällig, mag es nun Süditalien, Südamerika oder die Gegend um Chicago sein. Da sind ein großer Speisesaal mit einem riesigen Tisch, an dem während des Vorspiels Kaiser Ludwig erstickt, was unter dem Gelächter der Oma den Startschuß für die Erbstreitigkeiten gibt – im Schlußbild endet dann Lottario genauso. Im Innenhof wuchern die südländischen Pflanzen und in der Gemäldegalerie hängen viele alte Meister. Dazwischen wuseln unzählige Angehörige der Großfamilie, der Familienanwalt und dienstbare Geister herum, die für viel sinnfreie Bewegung im Hintergrund sorgen und viel mit Schußwaffen herumfuchteln. Man ist ja schließlich die Mafia?

Sänger und Orchester

In dieser Produktion hat sich ein erfahrenes und eingespieltes Team um Max Emanuel Cenčić versammelt, der auch der Kopf der Produktionsgesellschaft ist. Er führt somit Regie und ist gleichzeitig Hauptdarsteller – in diesem Fall der um einen Großteil des Erbes gebrachte Mafiapate Lottario. An diesem Abend stellt er seine große stimmliche Reichweite unter Beweis, so daß man ihn in Richtung Altus verorten kann. Die strahlende, klare und facettenreiche Stimme ist fast schon ein Alleinstellungsmerkmal. Die dramatischen Wut-Ausbrüche gelingen dank eines scheinbar unbegrenzten Volumens über die gesamte Bandbreite der Stimme. Die Bravourarie Se tu la reggi al volo – Wenn Du ihn im Fluge hältst, für die er den meisten Applaus erhält, hat er aus Porporas Oper Ezio übernommen. Giuditta (Suzanne Jerosme), die Witwe Ludwigs, und ihr Sohn Karl (eine stumme Rolle) sind eigentlich Nebenrollen, im Gegensatz zu dem Liebespaar Adalgiso (Sohn Lotarios) und Gildippe (Tochter Giudittas), die nicht nur die beiden Lager versöhnen, sondern auch das wahrlich aufwühlende und einzige Duett der ganzen Oper Dimmi che m’ami, o cara – Sag mir, daß du mich liebst, Geliebte gemeinsam haben.

Aber auch der weltbekannte Franco Fagioli hat anfangs Probleme mit der Rolle des Adalgiso. In seiner ersten Arie Tornate tranquille – Beruhigt Euch stößt er an seine Grenzen in der Tonhöhe. Mit seiner Erfahrung und sicheren Sprüngen quer durch alle Tonhöhen kann er die Rolle, die für Farinelli geschrieben wurde, danach mit der Auszeichnung „Weltklasse“ gestalten.

Ebensolches kann man von Julia Lezhneva behaupten. Mit ihrer wunderschönen, warmen und volltönenden Sopranstimme hat sie keine Probleme diesen unendlich langen und anspruchsvollen Gesangslinien der Gildippe technisch traumwandlerisch sicher zu folgen. Mit ihrer Bravourarie Come nave in mezzo all’onde – Wie ein Schiff inmitten der Wellen (stammt aus Porporas Oper Siface) setzt sie einen fulminanten Schlußpunkt – auch optisch: Zu der Musik tanzt das gesamte Ensemble einen Charleston. Ein szenisch wie musikalischer Kontrapunkt, der in Erinnerung bleiben wird.

Ein weiterer Höhepunkt im Ensemble ist Bruno de Sa, der als Sopranist seine Strahlkraft in noch höhere Klangwelten ausbreitet und dem Anwalt Berardo entsprechende Durchschlagskraft verleiht. Petr Nekoranec (Asprando) rundet mit leuchtenden tenoralen Höhen das Ensemble ab. In diesem Fall gehen die tenoralen Höhen bei Asprando natürlich ein wenig über den üblichen Rahmen hinaus. Da Porpora ein bedeutender Gesangslehrer war, hat er seinen Schülern mit diesen Rollen ermöglicht, entsprechend zu glänzen. Das heutige Ensemble ist in der Lage, es ihnen gleich zu tun. Das Orchester Armonia Atenea mit 25 Personen spielt auf barocken Instrumenten, also zwei Hörner, zwei Trompeten (alle ohne Ventile), zwei Flöten und die Streicher mit Darmseiten. George Petrou leitet vom Cembalo aus und sieht sich in der Rolle des kongenialen Begleiters der Sänger.

Fazit

Mit Max Emanuel Cencic, Franco Fagioli und Julia Lezneva sind weltbekannte Topstars des barocken Gesanges zugange, das Orchester Armonia Atena unter der Leitung von George Petrou sind im Bereich der barocken Instrumentalmusik bekannt und erfahren. Viele der Gäste aus nah und fern, besonders die Freundeskreise der Top-Künstler, sind begeistert und feiern auch nach fünf Stunden Aufführungsdauer die Produktion herzlich und ausgiebig.

Oliver Hohlbach

Bild: Falk von Traubenberg

Das Bild zeigt: Ensemble

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