Siegfried – Helsinki, Finnische Nationaloper

von Richard Wagner (1813–1883), zweiter Tag des Bühnenfestspiels Der Ring des Nibelungen in drei Aufzügen, Text vom Komponisten, UA: 16. August 1876, Bayreuth

Regie: Anna Kelo, Bühnenbild, Licht und Video: Mikki Kunttu, Kostüme: Erika Turunen

Dirigent: Hannu Lintu, Orchester der finnischen Nationaloper

Solisten: Daniel Brenna (Siegfried), Dan Karlström (Mime), Tommi Hakala (Wanderer), Matti Turunen (Fafner), Jukka Rasilainen (Alberich), Sari Nordqvist (Erda), Johanna Rusanen (Brünnhilde), Krista Kujala (Waldvogel)

Besuchte Aufführung: 23. März 2023 (Premiere)

Kurzinhalt

Siegfried, der Sohn der Zwillinge Siegmund und Sieglinde, wird von Alberichs Bruder, dem Zwerg Mime, einsam im Wald aufgezogen. Mimes heimliches Ziel ist es, den starken und furchtlosen Jüngling gegen den Drachen Fafner aufzustacheln, damit er ihn töte und seinem Ziehvater so den Ring verschaffe. Doch Siegfried begehrt gegen Mime auf. Er zwingt ihn, ihm den Namen seiner Mutter zu nennen und schmiedet sich aus den Trümmern des Schwertes Nothung ein neues Schwert, mit dem er zur Drachenhöhle aufbricht. Als er den Riesenwurm Fafner getötet hat, bringt er den Ring an sich und erkennt nun die List und Berechnung Mimes. Aus Zorn darüber bringt er ihn um und macht sich auf zum Brünnhildefelsen, um die Walküre zu erwecken. Den Weg dorthin versperrt ihm der Wanderer, der durch die Menschenwelt streifende Gott Wotan, und es kommt zum Kampf. Wotans Speer, der ihm die Macht über die Welt sicherte, wird zerschlagen und seine Herrschaft neigt sich damit dem Ende zu. Siegfried durchbricht den Feuerkreis, weckt Brünnhilde und beide entbrennen in Liebe zueinander.

Aufführung

Jeder der drei Aufzüge hat ein anderes Bühnenbild. Mimes Höhle ist ein dunkler Schrottplatz, auf dem er Siegfried für den Kampf mit Fafner vorbereitet. Siegfried trainiert mit Gewichten und Mime gelingt es nur noch mit Mühe (und einem Elektroschocker), seinen aufmüpfigen und starken Ziehsohn in Schach zu halten. Siegfried verhält sich allen anderen Figuren gegenüber naiv und direkt. Das Kostüm des kahlen Wanderers und Erdas erinnert an das Gewand buddhistischer Bettelmönche. Der Wald vor Neidhöhle wird mit Hilfe von Beleuchtung und Projektionen effektvoll und bunt gestaltet. Während des zweiten Aufzugs wird die Bühne immer heller. Fafner erscheint als riesige Videoprojektion eines Gesichts und eines Drachens, bevor er in seiner wirklichen Gestalt sterbend auf die Bühne kriecht. Der dritte Aufzug wird von gewaltigen Ringen in der Mitte der Bühne dominiert: Zuerst erscheint Wotan, in einem blauen Ring wie in einem Hamsterrad laufend, bevor er Erda beschwört, die wie eine Statue auf einer Säule aus der Tiefe aufsteigt. Nach dem Kampf mit Siegfried füllt ein mächtiger Ring aus Stahl, aus dem Flammen schlagen, die gesamte Bühne aus, bevor eine majestätische Berglandschaft erscheint, deren Himmel zu Beginn des langen Dialogs zwischen Siegfried und der aus ihrem Schlaf erweckten Brünnhilde in allen Farben schillert. Am Ende des Aufzugs erscheint hinter ihnen ein riesiger goldener Ring. Die Personenführung ist wie die Gestaltung der Szene, auf der es wie von der Partitur verlangt heftig blitzt und donnert, energiegeladen und folgt den originalen Regievorgaben bzw. verdeutlicht den Gesangstext durch Gebärden und kleine Aktionen.

Sänger und Orchester

Hannu Lintu hat eine Vorliebe für kräftige Tongebung und stabile Tempi, die er gerne etwas flotter als gewöhnlich nimmt, mit Ausnahme des abschließenden Zwiegesangs von Siegfried und Brünnhilde. Er holt das Maximum an Lautstärke aus dem Orchester der finnischen Nationaloper heraus, etwa im Orchestervorspiel des dritten Aufzugs, in dem die Piccoloflöte beinahe überbläst. Was er erreicht, ist ein pastoses, blockartiges, aber durchaus analytisch klares Klangbild, das von den gängigen Ring-Interpretationen in interessanter Weise abweicht und ungekannte, neue Farben mit dem reichhaltigen Ring-Orchester mischt. Das alles kann natürlich nur gelingen, weil er über Sänger mit schier unverwüstlichen Stimmen verfügt. Das Ende des dritten Aufzuges dürfte selten derart kraftvoll gespielt und gesungen worden sein. Von der Lautstärke her ging der Dirigent hier an die äußerste Grenze des Machbaren.

Zu den Leistungen im einzelnen: Daniel Brenna trägt in der Titelrolle das gesamte Stück. Er kann den Text nuanciert vortragen und sang mit abwechslungsreicher Tongebung je nach Situation mit halber, verschleierter, kopfiger oder voller Stimme. Seine Körpersprache ist eigenartig: Einerseits kann er sich kindlich-verspielt, wie ein Riesenbaby, bewegen, mit Leichtigkeit, andererseits agiert er schon fast übertrieben expressiv. Dan Karlström spielte Mime rührend, nicht wie eine Karikatur, sondern humoristisch und flink. Sein Spieltenor ist von einer außergewöhnlichen Durchschlagskraft und seine Aussprache glasklar. Tommi Hakala (Wanderer) sang und agierte zumeist erhaben, kann aber auch bissig und scharf auftreten, etwa im Dialog mit Siegfried und Alberich, der von Jukka Rasilainen gesungen wurde. Darstellerisch ist Rasilainens Gestaltung der Rolle tadellos, mit verkniffenen Augen und linkischen Gebärden. Was negativ auffällt, ist seine uneinheitliche Aussprache. Mitunter ist sie korrekt bis ins kleinste Detail, mitunter hat er aber Probleme mit den Zischlauten, vor allem am Ende der Wörter. Was in seiner Szene mit dem Wanderer verblüffte, war das Volumen seiner Stimme. Beide singen dynamisch auf dem gleichen Niveau, und auch szenisch kam diese Ebenbürtigkeit des Nibelungen mit dem höchsten Gott zum Ausdruck, als er ihm den Speer abnahm. Matti Turunen (Fafner) sang seine kurze Partie vor seinem Kampf mit Siegfried unsichtbar mit Verstärkung, also Wagners Vorgaben getreu, und sah wie ein versteinerter Einsiedler aus, als er auf die Bühne kam. Sari Nordqvist (Erda) kann und braucht sich in ihrem Kostüm kaum zu bewegen und singt wie sämtliche Sänger in dieser Produktion laut und deutlich. Allerdings ist das Tremolo in ihrem tiefen Register etwas störend. Johanna Rusanen (Brünnhilde) hat eine stählerne Höhe und wie bei Krista Kujala (Waldvogel) merkt man lediglich ihrem mittleren Register an, das es sich bei ihr um eine reifere Stimme handelt. Rusanen ist eine kräftige Erscheinung. Sie spielt ihren Part dramatisch packend. Man kann nur zu gut nachvollziehen, daß sie vor dem aufdringlichen Siegfried erschreckt zurückweicht, nimmt ihr dann aber auch den Stimmungsumschlag am Ende ab, als sie sich ihm hingibt. Kujala als Waldvogel ist wie eine Pilzsammlerin kostümiert, mit Zöpfen, Wollmütze und Gummistiefeln. Kleine humoristische Einschläge wie dieser durchziehen die gesamte Inszenierung.

Fazit

Der zweite Tag des Ring ist der heitere Teil der Tetralogie und wurde dementsprechend mit Witz und Einfallsreichtum gestaltet, ohne das Stück ins Lächerliche zu ziehen, ganz im Gegenteil: Man dürfte Wagners Siegfried in Deutschland derzeit schwerlich ernsthafter und respektvoller inszeniert dargeboten bekommen als in der finnischen Hauptstadt. Die Szenerie ist farblich und strukturell umwerfend schön, die Personenregie voll von kleinen, manchmal überraschenden Aktionen, die Darsteller haben keine Scheu vor der großen Geste und lassen dieses lange Werk kurzweilig werden. Die bildmächtige Szene geht mit der wuchtigen musikalischen Wiedergabe, an der die großen Stimmen der Sänger ihren Anteil haben, eine perfekte Verbindung ein. Dieser finnische Siegfried ist wirklich ein Erlebnis und wurde vom Premierenpublikum zu Recht mit einhelligem Jubel quittiert.

Dr. Martin Knust

Bild: Mikki Kunttu

Das Bild zeigt:  Johanna Rusanen (Brünnhilde), Daniel Brenna (Siegfried)

 

Übersetzung auf Englisch

Short content

Siegfried, the son of the twins Siegmund and Sieglinde, is raised alone in the forest by Alberich’s brother, the dwarf Mime. Mime’s secret aim is to incite the strong and fearless youngster against the dragon Fafner so that he will kill him and thus obtain the ring for his foster father. But Siegfried rebels against Mime. He forces him to tell him his mother’s name and forges a new sword from the ruins of the sword Nothung, with which he sets off for the dragon’s lair. When he has killed the giant worm Fafner, he 29 OPERAPOINT 2/2023 keeps the ring to himself and now recognises Mime’s cunning and calculation. Angered by this, he kills him and sets off for Brünnhildefelsen to awaken the Valkyrie. The way there is blocked by the wanderer, the god Wotan, who roams the human world, and a battle ensues. Wotan’s spear, which secured him power over the world, is shattered and his reign thus draws to a close. Siegfried breaks through the circle of fire, awakens Brünnhilde and both fall in love with each other.

Performance

Each of the three acts has a different stage set. Mime’s cave is a dark junkyard where he prepares Siegfried for the fight with Fafner. Siegfried trains with weights and Mime only manages with diffi culty (and a stun gun) to keep his rebellious and strong foster son in check. Siegfried behaves naively and directly towards all the other characters. The costume of the bald wanderer and Erda is reminiscent of the garb of Buddhist mendicant monks. The forest in front of Neidhöhle is effectively and colourfully designed with the help of lighting and projections. During the second act, the stage becomes brighter and brighter. Fafner appears as a huge video projection of a face and a dragon before he crawls onto the stage dying in his real form. The third act is dominated by huge rings in the centre of the stage: First Wotan appears, running in a blue ring like in a hamster wheel, before summoning Erda, who rises from the depths like a statue on a pillar. After the fight with Siegfried, a mighty ring of steel from which flames burst fills the entire stage before a majestic mountain landscape appears, its sky shimmering in all colours at the beginning of the long dialogue between Siegfried and Brünnhilde, who has been awakened from her sleep. At the end of the act, a huge golden ring appears behind them. The behaviour of the characters is energetic, as is the design of the scene, which flashes and thunders violently as required by the score, and follows the original stage directions or clarifi es the vocal text through gestures and small actions.

Singers and orchestra

Hannu Lintu has a penchant for powerful tone and stable tempi, which he likes to take a little more briskly than usual, with the exception of the concluding dialogue of Siegfried and Brünnhilde. He gets the maximum volume out of the orchestra of the Finnish National Opera, for example in the orchestral prelude of the third act, in which the piccolo almost overblows. What he achieves is a pastose, block-like but thoroughly analytically clear sound image that deviates from the usual Ring interpretations in an interesting way and mixes unfamiliar, new colours with the rich Ring orchestra. Of course, all this can only succeed because he has singers with almost indestructible voices. The end of the third act has rarely been played and sung so powerfully. In terms of volume, the conductor pushed the boundaries here. The performances in detail: Daniel Brenna rules the entire piece in the title role. He is able to deliver the text in a nuanced way and sang with varied intonation in a half, veiled, falsetto or full voice, depending on the situation. His body language is peculiar: on the one hand he can move in a childlike, playful way, like a giant baby, with ease, on the other hand he acts almost exaggeratedly expressive. Dan Karlström played Mime touchingly, not like a caricature, but humorous and nimble. His Spieltenor is of an extraordinary penetrating power and his pronunciation crystal clear. Tommi Hakala (Wanderer) sang and acted mostly sublime, but can also be biting and sharp, for example in the dialogue with Siegfried and Alberich, sung by Jukka Rasilainen. Acting-wise, Rasilainen’s shaping of the role is impeccable, with pinched eyes and awkward gestures. What stands out negatively is his inconsistent pronunciation. Sometimes it is correct down to the smallest detail, but sometimes he has problems with the sibilants, especially at the end of words. What amazed in his scene with the Wanderer was the volume of his voice. Both sang dynamically on the same level, and also scenically this equality of the Nibelung with the supreme god was expressed when he took the spear from him. Matti Turunen (Fafner) sang his short part before his fight with Siegfried invisibly with amplification, thus true to Wagner’s specifications, and looked like a eremite recluse when he came on stage. Sari Nordqvist (Erda) can and hardly needs to move in her costume and, like all the singers in this production, sings loud and clear. However, the tremolo in her lower register is somewhat distracting. Johanna Rusanen (Brünnhilde) has a steely high register and, as with Krista Kujala (Waldvogel), only her middle register shows that she is a more mature voice. Rusanen has a powerful presence. She plays her part dramatically gripping. One can understand only too well that she recoils in fright from the in OPERAPOINT 2/2023 30 trusive Siegfried, but then also takes her change of mood seriously the change of mood at the end. Kujala as Waldvogel is costumed like a mushroom picker, with plaits, woolly hat and wellies. Little touches of humour like this run through the whole production.

Conclusion

The second day of the Ring is the light-hearted part of the tetralogy and was accordingly designed with wit and ingenuity, without dragging the piece into ridicule. On the contrary: it would be hard to find Wagner’s Siegfried staged more seriously and respectfully in Germany than in the Finnish capital.

Dr. Martin Knust

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