Saint François d’Assise – Scènes Franciscaines – Hamburg, Staatsoper (Elbphilharmonie)

von Olivier Messiaen (1908–1992), Oper in drei Akten und acht Bildern, Libretto vom Komponisten, UA: 28 November 1983, Palais Garnier

Szenische Einrichtung: Georges Delnon, Szenographie: Thomas Jürgens, Kostüme: Julia Mottl, Licht: Stefan Bolliger, Video: Marcus Richardt, Kamera und Schnitt: David Rankenhohn, Dramaturgie: Janina Zell und Ralf Waldschmidt

Dirigent: Kent Nagano, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble LauschWerk, Leitung: Martin Steidler und Sonja Lachenmayr, Assistenz des Dirigenten: Nicolas André

Solisten: Jacques Imbrailo (St. Franziskus), Anna Prohaska (der Engel), Anthony Gregory (der Aussätzige), Kartal Karaderik (Bruder Léon), Dovlet Nurgeldiyev (Bruder Massée), Andrew Dickinson (Bruder Élie), David Minseok Kang (Bruder Bernard), u.a.

Besuchte Aufführung: 2. Juni 2024 (Premiere); halbszenische Aufführung

Kurzinhalt

Erstes Bild: Franziskus belehrt Bruder Léon, daß Geduld erforderlich sei, um gegen das Leiden zu bestehen. Zweites Bild: Nach dem Gesang des morgendlichen Offiziums bittet Franziskus Gott um die Fähigkeit, einen Aussätzigen zu lieben. Drittes Bild: Der Aussätzige beklagt sein Schicksal und beschuldigt die Brüder, ihn schlecht zu pflegen. Ein Engel erscheint und Franziskus küßt ihn, was zu einer wunderbaren Heilung des Aussätzigen führt, der einen Freudentanz aufführt. Viertes Bild: Ein Engel klopft laut an die Pforte des Klosters und will mit den Brüdern über die Vorhersehung sprechen. Bruder Élie weist ihn ab, doch Bruder Bernard gibt ihm Antwort auf seine Fragen. Fünftes Bild: Der Engel spielt auf seiner Geige für Franziskus und preist die Musik als göttliche Gabe. Franziskus verliert vor Entzückung das Bewußtsein. Sechstes Bild: Unter einer Eiche im Frühling lauschen Bruder Massée und Franziskus den zahlreichen Vogelrufen. Franziskus predigt den Vögeln und segnet sie. Siebtes Bild: Einsam in einer Höhle hat Franziskus eine Erscheinung des Kreuzes, das in fünf Strahlen, die die fünf Leiden Christi am Kreuz symbolisieren, leuchtet. Unter großem Lärm, der an das Klopfen des Engels gemahnt, zeigen sich die Wundmale Christi an Franziskus Leib. Achtes Bild: Franziskus liegt sterbend am Boden im Kreis seiner Brüder. Der Engel und der Aussätzige erscheinen und bieten Franziskus Geleit ins Paradies. Er stirbt, der Chor singt von der Auferstehung der Toten und das Licht wird gleißend bis zur Unerträglichkeit.

Aufführung

Es handelte sich bei dieser halbszenischen Aufführung um ein gemeinsames Projekt des Dirigenten Kent Nagano und des Regisseurs Georges Delnon. Die Aufführung war nicht szenisch, aber auch nicht vollständig konzertant, sondern nutzte den runden Saal der Elbphilharmonie als Projektions- und Spielfläche. Das Orchester, das physisch und musikalisch im Mittelpunkt dieses Ausnahmewerkes steht, bildete das Zentrum und wird angesichts seiner schieren Masse und der Vielzahl ungewöhnlicher Instrumente tatsächlich zum Hauptakteur. Über dem Orchester hatte man eine Brücke errichtet, auf der die Sänger der Rollen der Mönche standen. Der Engel, weiß und in schillernden Farben, bewegte sich entweder durch die Ränge oder wurde im sechsten Bild auf einer kleinen Plattform in die Höhe gehievt. Die Chöre saßen bzw. standen in den Rängen hinter dem Orchester und wurden von einem Assistenten, der die Bewegungen Naganos am Pult des Philharmonischen Orchesters genau spiegelte, aus Gründen der besseren Sichtbarkeit für alle Musiker geleitet. Entscheidend für die visuelle Gestaltung war neben der effektvollen Beleuchtung des gesamten Saales ein weiteres technisches Requisit: Unter der Decke der Elbphilharmonie befand sich eine große, kreisrunde Leinwand, die von allen Seiten aus gesehen werden konnte. Auf ihr war der Gesangstext – ausschließlich in deutscher Übersetzung des französischen Librettos – und unterschiedliches Filmmaterial zu sehen, das in zwei Kategorien zu unterteilen ist. Während des zweiten Aktes – genauer: bei den Bilder 4 und 6 – sah man Filme von Klöstern und Landschaften, Bilder von mittelalterlichen Buchillustrationen, Filmsequenzen mit Vögeln und den Sänger der Titelpartie in der Natur. Diese Videoprojektionen illustrierten die Handlung. Dann gab es noch ein paar dokumentarische Filme, die als visuelle Kommentare der Handlung zu betrachten sind. Im ersten Akt zeigte man zumeist schwarz-weiße Aufnahmen der Hamburger Obdachlosenhilfe, des Klimaforschers Mojib Latif und der Seenotrettungsorganisation Sea Watch bei einem Einsatz auf dem Mittelmeer. Ein selbstreferentielles Moment ergab sich im Film zum fünften Bild. Hier sah man Musiker des Orchesters und den Dirigenten beim Studium der riesigen Partitur des Werkes. Im siebten Bild projizierte man Aufnahmen aus einem Hamburger Hospiz und im letzten wurde der Schirm dunkel, bis zum Ende alles hell aufleuchtete. Die Personen auf den Filmen bewegen ihre Lippen mal mehr, mal weniger synchron mit dem Gesangstext. Doch auch ohnedies sind die inhaltlichen Parallelen zwischen den Filmen und den dokumentarischen Videos offensichtlich. Zusätzlich kommen Komparsen zum Einsatz, die den Raum optisch beleben, und die Choristen haben im dritten Bild ausladende Gebärden auszuführen.

Sänger und Orchester

Messiaens einzige Oper ist nur sehr selten zu hören, und das aus sehr naheliegenden Gründen: Es handelt sich um ein musikalisch enorm anspruchsvolles Werk; das gilt sowohl für die Musiker als auch das Publikum. Da ist zunächst die Spieldauer von über vier Stunden. Hinzu kommt eine physisch bis zum Äußersten getriebene Tonsprache, die für alle Beteiligten kräftezehrend ist. Und dann ist da noch die mystische Handlung, in der es ständig um die großen Fragen der menschlichen Beziehung zu Gott, den Mitmenschen und der Schöpfung geht. Wenn man bereit war, sich auf diesen musikalisch-dramatischen Marathon einzulassen – und das waren nicht alle; die Ränge lichteten sich nach dem zweiten Akt –, dann wurde man mit einer einmalig tiefen Erfahrung belohnt, die weit über ein reines Konzerterlebnis hinausgeht und zu einem religiösen Akt wurde.

Vor diesem Hintergrund ist die Leistung der Musiker zu sehen, die an diesem Abend wahrhaft Übermenschliches vollbrachten. Messiaen schuf ein eigenes Tonsystem, das rein technisch gesehen zwar atonal ist, aber häufig – vor allem am Ende der Akte – in eine quasi-tonale Harmonik mündet. Seine blockhafte Instrumentation schillert in allen nur denkbaren Farben, wozu ungewöhnliche Spieltechniken und Instrumente das ihre beitragen. Neben unterschiedlichen Gongs, einer gewaltigen Batterie von Schlaginstrumenten und elektronischen Klängen – ein Instrument namens Ondes martenots, das in den 1920er Jahren erfunden wurde – kommen Streicher und Bläser in starker Besetzung zum Einsatz. Um die 250 Instrumentalisten, Choristen und Solisten wirken mit.

Messiaens Musik hat häufig einen nicht-menschlichen Ursprung. Neben seiner tiefen Religiosität zeichnete sich der Komponist wie Franziskus von Assisi durch seine große Liebe zu den Vögeln aus. Messiaen betätigte sich selber als Ornithologe und zeichnete hunderte von Vogelrufen in der Natur auf, die in vielen seiner Werke in unveränderter oder abgewandelter Form vorkommen. Die metrisch vollkommen unregelmäßige Struktur der Vogellaute ist auch zu einem guten Teil für die rhythmische Komplexität der Partitur verantwortlich, die unzählige Taktwechsel und Extrazählzeiten enthält. Die Aufgabe des Dirigenten besteht also zum einem im permanenten Anzeigen von Taktmodifikationen, denen die Musiker dann auch zu folgen haben, zum anderen im ständigen Geben von Einsätzen, denn was die Sache zusätzlich noch erschwert, sind die zahlreichen Generalpausen. Viele Bilder haben eine Musik, die wie eine Sequenz von Vogelrufen oder eine Abfolge von Psalmversen gestaltet ist, die durch Pausen getrennt werden. D.h. dauernd haben die Musiker wieder aufs Neue einzusetzen und natürlich ist bei dieser von viel Stille durchsetzten Textur auch die geringste rhythmische Ungenauigkeit bei der gnadenlos transparenten Akustik dieses Saales aufs Deutlichste zu hören. Klappernde Einsätze kamen aber so gut wie gar nicht vor. Die unglaublich lange Strecke vollkommener Konzentration der Musiker, vom ersten Schlagwerkeinsatz zu Beginn bis hin zum weißglühenden Schlußakkord, führte zu einer berauschenden Intensität im Erleben dieser Aufführung. Das philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Kent Nagano spielte rhythmisch perfekt, holte faszinierende Schattierungen aus den außergewöhnlichen Instrumentalmischungen heraus und hielt den ganzen Abend über die Spannung auf höchstem Niveau. Die Chöre, die eine nicht minder gewaltige Aufgabe zu bewältigen haben – neben leisen, höchsten Tönen, die zu summen sind, wartet nach allem immer noch der wuchtige letzte Akt –, waren dank Naganos Assistent Nicolas André, der vor dem Chor stand, stets vollkommen synchron und mußten sich ihre Töne zumeist selber mit der Stimmgabel suchen, um sie dann sauber im dichten Orchestergewühl zu platzieren. Die Solisten singen zumeist colla parte, d.h. ihre Melodien werden auch von den Instrumenten gespielt, oder a cappella. Ihre Stimmen gehen somit eher in den Gesamtklang ein und geben den Sängern wenig Gelegenheit, sich virtuos hervorzutun. Eine Ausnahme ist die Partie des Engels, gesungen von Anna Prohaska, deren strahlende Töne, die passenderweise oft aus der Höhe des Raumes kamen, mit ihrem gleißend-schillernden Kostüm korrespondierten. Jacques Imbrailo in der Titelrolle beeindruckte mit seinem sonoren Klang, den er seine gesamte, lange Partie hinüber aufrechterhalten konnte. Er hat von allen Sängern natürlich den schwierigsten Part und sang als einziger nicht auswendig. Neben ihm hat Kartal Karaderik (Bruder Léon) die häufigsten Auftritte. Er machte seine Sache wie alle übrigen männlichen Solisten vollkommen ruhig, sicher und solide. Aufgrund der großen Entfernung zum Publikum und der halb konzertanten Aufführung war das darstellerische Moment stark eingeschränkt; Interaktionen zwischen den Figuren wurden lediglich angedeutet.

Fazit

Messiaens Oper wird häufig als Oratorium bezeichnet und die Darbietung in dieser Form – ohne Szene aber mit ergänzenden Videoprojektionen – ist von daher angemessen. Sie stellt das in den Mittelpunkt, was die Zuhörer bei diesem Stück zu ergreifen, ja erschüttern vermag: die Musik. Die ewigen Fragen von Leiden und Buße, von Tod und Auferstehung, die hier verhandelt werden, werden in der Musik und ihrer Darbietung sinnlich erfahrbar und sind universell. Vielleicht war es das, was ein paar Hörer im Publikum an den inszenatorischen Elementen störte. Die Buhrufe für den Regisseur, die die einzigen waren, erklären sich vielleicht aus der Koppelung von aktuellen Ereignissen an diesen abstrakten Stoff. Dieses Werk rührt an Dinge, die zeitlos sind, und das auf eine Weise, die keine Konkretisierung braucht, um zu berühren. Obgleich die Videos ebenso wichtige Fragen stellten wie das Libretto – die nach Mitmenschlichkeit und dem Umgang mit der Schöpfung –, gingen sie in dem gewaltigen Strom von Musik mit ihrer kaum zu fassenden Detailfülle nahezu unter.

Daß man es hier nicht bloß mit einem erhebenden oder gar unterhaltenden Opernabend zu tun hat, dürfte bereits deutlich sein. Dieses Werk, das zu dem Gewaltigsten zählt, was im 20. Jahrhundert geschaffen wurde, verlangt Hörern und Musikern wirklich alles ab. Von dem anerkannten Messiaen-Experten Nagano und einem bis zuletzt präzise und hypnotisierend musizierenden Riesenensemble in einem der außergewöhnlichsten Konzertsäle dargeboten vermag es den Hörer in Regionen erheben, die jenseits dessen liegen, was dem Menschen überhaupt erfahrbar ist.

Dr. Martin Knust

Bild: Bernd Uhlig

Das Bild zeigt: Jacques Imbrailo (St. Franziskus), David Minseok Kang (Bruder Bernard), Niklas Mallmann (Frère Ruffin), Florian Eggers (Frère Sylvestre), Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble LauschWerk, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Veröffentlicht unter Aktuelles, Featured, Hamburg, Staatsoper