Sigurd – Marseille, Oper

von Ernest Reyer (1823–1909), Oper in vier Akten und 19 Bildern, Libretto von Camille du Locle und Alfred Blau, UA: 1884 Brüssel
Regie: Jean-Louis Meunier, szenische Regie: Orane Furness-Pina, Choreographie: Alexandra Beignard, Inszenierung: Charles Roubaud, Assistenz: Jean-Christophe Mast, Bühnenbild: Emanuelle Favre, Bühnenbildassistenz: Anaïs Favre, Kostüme: Katia Duflot, Licht: Jacques Rouveytrollis, Lichtassistenz: Jessica Duclos, Video: Julien Soulier
Dirigent: Jean-Marie Zeitouni, Orchester der Oper Marseille, Chor der Oper Marseilles, Chorleitung: Florent Mayet
Solisten: Catherine Hunold (Brunehild), Charlotte Bonnet (Hilda), Marion Lebègue (Uta), Florian Laconi (Sigurd), Alexandre Duhamel (Gunther), Nicolas Cavallier (Hagen), Marc Barrard (ein Priester Odins), Gilen Goicoechea (ein Barde), Marc Larcher (Irnfried), Kaëlig Boché (Hawart), Jean-Marie Delpas (Rudiger), Jean-Vincent Blot (Ramunc)
Besuchte Aufführung: 1. April 2025 (Premiere)

Kurzinhalt

König Gunther wird von den Frauen in Worms nach einem erfolgreichen Feldzug willkommen geheißen. Darunter sind auch seine Schwester Hilda und ihre Amme Uta. Hilda gesteht Uta ihre unglückliche Liebe zu Sigurd und ihre Amme verspricht ihr, ihre Zauberkräfte zu nutzen, damit Sigurd ihre Liebe erwidert. Gunther betritt mit den Abgesandten Attilas den Saal. Hagen läßt den Barden die Geschichte von der Walküre Brunehild singen, die im fernen Island von Odin in ein magisches Schloß, das von Feuer umgeben ist, eingesperrt wurde, aus dem sie ein Krieger befreien soll, der auch ihr Gatte werden wird. Gunther kündigt an, die Reise nach Island antreten zu wollen. Die Boten Attilas bieten Hilda die Schätze ihres Königs, wenn sie ihre Königin werden wolle, doch sie geht nicht darauf ein. Sigurd tritt ein und fordert Gunther heraus: Auch er will Brunehild erobern. Gunther läßt sich jedoch nicht herausfordern, sondern bietet Sigurd seine Freundschaft an. Hilda reicht ihm einen Trank, den Uta bereitet hat und der bewirkt, daß er sich in Hilda verliebt. Er bietet Gunther an, gemeinsam mit ihm die Fahrt zu Brunehild anzutreten und ihm dabei zu helfen, zu ihr vorzudringen, wenn er ihm einen Wunsch erfülle. Gunther geht darauf ein. Rudiger überreicht Hilda ein Armband von Attila. Sollte sie es ihm senden, würde er sie verteidigen oder rächen.

Gunther, Hagen und Sigurd sind auf Island angekommen und treffen zu einer Zeremonie des Odinspriesters ein, der versucht, den Zorn des Gottes zu besänftigen. Er berichtet den dreien, daß nur ein Held, der rein an Körper und Seele sei, die Fahrt zu Brunehilds Schloß antreten könne. Sigurd erklärt sich dazu bereit. Der Priester händigt ihm ein magisches Horn aus, in das er dreimal blasen soll, um zum Schloß zu gelangen. Sigurd begibt sich auf den Weg und kämpft mit Kobolden und bösen Geistern. Er vertreibt sie mit seinem Hornruf. Die drei Nornen erscheinen und verkündigen ihm seinen baldigen Tod. Auch sie vertreibt er mit dem Horn ebenso wie die Elfen, die ihn anschließend zu verführen versuchen. Die drei Nornen führen ihn nun zu der schlafenden Brunehild, die er erweckt, nachdem er sich maskiert hat. Die Kobolde bringen beide zurück zur Burg Gunthers in Worms. Gunther findet in der Morgendämmerung die schlafende Brunehild, die von Sigurd bewacht wird. Sigurd erinnert Gunther an sein Versprechen und bittet um die Hand Hildas, die glücklich ist im Gegensatz zu ihrer Amme, die böse Vorahnungen plagen. Hagen kündigt dem Volk an, daß Gunther und Brunehild über den Rhein fahren werden, um in den heiligen Wald Odins zu gehen. Gunther bittet Brunehild darum, den Bund zwischen Sigurd und Hilda zu schließen. Als sie Sigurds Hand ergreift, donnert es und durchzuckt beide ein seltsames Gefühl. Das Volk beklagt die rätselhafte Traurigkeit, die Brunehild befällt. Hilda ist von Eifersucht erfüllt. Sie offenbart Brunehild, daß es Sigurd war, der sie erweckt hat, damit Gunther seiner Hochzeit mit ihr zustimmen solle. Brunehild verzweifelt ebenso wie Gunther. Hagen schlägt vor, Sigurd dafür mit dem Tod zu bestrafen, daß er das Geheimnis Hilda verraten hat. Gunther willigt ein. Brunehild ruft Odin an und wirft mit Sigurd magische Kräuter in eine Quelle, die den Liebeszauber Utas brechen. Er begreift, daß er Brunehild liebt und stellt sich Gunther, der nach ihm sucht, im Kampf entgegen. Seine Männer bringen den sterbenden Sigurd zu Brunehild, die gemeinsam mit ihm stirbt. Hilda läßt Uta das Armband zu Attila bringen, damit er den Tod Sigurds an Gunther räche. Sigurd und Brunehild steigen in den blauen Himmel auf.

Aufführung

Diese Oper ist an die Geschichte des Marseiller Hauses gebunden, was in dieser Inszenierung bildlich aufgegriffen wurde. Mit ihr eröffnete man vor 100 Jahren das wiedererrichtete Opernhaus im Dezember 1924 und die Oper wurde dann bis zum zweiten Weltkrieg hier regelmäßig aufgeführt. Die Kostüme der Sänger dieser Neuproduktion waren im Stile der zwanziger Jahre gehalten mit ein paar phantastischen Einschlägen bei der Rüstung Sigurds und abstrakten klassizistischen Kostümen für die Nornen und Choristinnen, die den Fresken des Opernfoyers nachempfunden waren. Der zweite Akt ließ die Geister, Kobolde und Nornen wie auch den feurigen See um Brunehilds Schloß in Form von farbigen Videoprojektionen erscheinen. In den übrigen Akten war das Bühnenbild eher streng und schlicht. Die beiden Ballette wurden nicht tänzerisch ausgeführt. Die Personenregie war wie der Handlungsablauf dieses zwischen Zauberoper und Grand opéra angesiedelten Werkes eher statisch und blockhaft. Wie für die Grand opéra typisch, kommt es eher auf überwältigende szenische Effekte und Tableaus als eine kontinuierlich fortschreitende Erzählung der Handlung an.

Sänger und Orchester

Vorab sind ein paar Worte zur Musik dieses mittlerweile recht unbekannten Stückes angebracht: Wie zu sehen, gibt es etliche Ähnlichkeiten der Handlung mit Wagners Götterdämmerung. Musikalisch liegen Reyers und Wagners Musik jedoch weit auseinander. Reyers Oper entstand bereits seit den 1860ern, wenn sie auch erst in den 1880ern vollendet wurde. Beim Beginn seiner Vertonung des Nibelungenstoffes waren zwar die ersten Teile von Wagners Ring des Nibelungen bereits komponiert, aber noch nicht aufgeführt worden waren. Reyer schätzte die Musik Wagners. Als er seine eigene Nibelungen-Oper in Angriff nahm, war das neueste ihm bekannte Werk Wagners, Lohengrin, jedoch bereits anderthalb Jahrzehnte alt. Tatsächlich lassen sich allenfalls ein paar Referenzen zu Lohengrin in Sigurd festmachen, wenn man nach Wagnerbezügen suchen will. Die Musik ist leitmotivisch, doch im übrigen ist Reyers Tonsprache eine ganz andere. Es gibt Bezüge zur französischen Tradition, etwa zur Musik Hector Berlioz‘ und Charles Gounods, was die farbige Orchestration angeht. Die Grand opéra ist sein Modell, allerdings ohne die für Meyerbeer typischen koloraturgesättigten Solistenparts. Reyer komponiert im wesentlichen syllabisch, d.h. der Textvortrag geht schneller vonstatten als bei Meyerbeer oder den italienischen Belcanto-Komponisten der Jahrhundertmitte. Seine Formgebung ist wesentlich klarer und übersichtlicher als Wagners unendliche Melodie. Die einzelnen Nummern sind deutlich voneinander abgegrenzt. Reyers Musik ist nicht selten rhythmisch vorwärtsdrängend, was der Dirigent Jean-Marie Zeitouni mit der Wahl von eher zügigen Tempi noch unterstrich. Melodisch ist Reyers Oper nicht so eingängig wie die italienischen Opern seiner Zeit. Er überrascht statt dessen mit schönen harmonischen Wendungen und einem stets runden und ständig variierten Orchesterklang; die Bühnenmusik sieht viele Blasinstrumente vor. Darüberhinaus erlauben Reyers Vokalmelodien den Sängern, in ihren Rollen zu glänzen, was die Beliebtheit dieses Werkes um die Jahrhundertwende erklärt. Etliche namhafte Sänger sangen damals die Rollen des Sigurd und der Brunehild. Auch wenn die Handlung nicht mit der psychologischen Tiefe und flüssigen Dramaturgie der Wagner’schen Tetralogie mithalten kann, hätte die Musik dieses vergessenen Marseiller Komponisten es verdient, öfter gespielt zu werden.

Die männlichen Solopartien des Sigurd und Gunther sind die umfangreichsten. Florian Laconi (Sigurd) nahm die gesamte Partie heldentenoral, also mit voller Bruststimme und leuchtender Spitze, die sich trotz der vielen hohen und lauten Töne, die er zu singen hatte, nicht abnutzte. Seine Partie ist alles andere als einfach. Die Sicherheit mit der er wie auch die anderen Sänger und Sängerinnen ihre ungewohnten Parts vortrugen, war schlichtweg beeindruckend. Es gab bis auf ganz wenige Ausnahmen keine rhythmischen Unklarheiten in der Koordination von Orchester und Sängern. Nebenbei bemerkt ist der Saal der Marseiller Oper mit seinen Rängen, Balkonen recht hoch und zugleich der Abstand zwischen Sängern und Publikum eher gering. Dadurch und dank der guten Akustik des Raumes war die dynamische Balance zwischen Sängern und Orchester durchgehend sehr gut. Alexandre Duhamel (Gunther) sang seine Partie zu Beginn vielleicht etwas zu forciert; jedenfalls verlor sein Bariton im zweiten Akt ein wenig von seinem Schmelz; in den letzten beiden Akten zeigte er dann den vollen dynamischen Umfang, über den er verfügt, und war klanglich wieder ganz auf der Höhe. Nicolas Cavalliers Hagen blieb kompositionsbedingt etwas blaß; gerade in seinem Fall darf man das Wagner’sche Pendant nicht zum Vergleich heranziehen. Catherine Hunold (Brunehild) hat einen kraftvollen, durchschlagenden Sopran, der sich im Duett mit Sigurd im letzten Akt gut mit Laconis Stimme mischte, das beide mit einer an Puccini gemahnenden stimmlichen Wucht darboten. Die Mezzosopranistin Charlotte Bonnet (Hilda) hat ebenfalls eine große Stimme, die sie sehr pointiert einsetzte. Psychologisch ist ihre Rolle derjenige mit der größten Entwicklung, und die unterschiedlichen Stimmungsumschwünge ihrer Partie meisterte sie darstellerisch souverän. Marion Lebègue (Uta) sang ihre Mezzopartie solide, verfügt aber nicht über die gleiche stimmliche Kraft ihrer beiden Kolleginnen. Gilen Goicoechea (ein Barde) trug seine Partie, wie es der Gesangstext vorgibt, ausgesprochen wohlklingend vor, mit einem lyrischen Baritontimbre; allerdings liegen die tiefen Passagen für ihn zu tief. Marc Larcher (Irnfried), Kaëlig Boché (Hawart), Jean-Marie Delpas (Rudiger), Jean-Vincent Blot (Ramunc) trugen ihr zum Teil a cappella zu singendes Soloquartett, das äußerst ansprechend gesetzt ist, klanglich wohlausgeglichen vor. Ein weiterer interessanter Effekt war der mit geschlossenem Mund zu singende Chor hinter der Szene im dritten Akt. Die Chöre haben in den ersten beiden Akten viel zu singen, in den letzten Akten beschränken sie sich eher auf kurze Einwürfe. Lobend zu erwähnen ist, daß sie trotz allen zeremoniellen Pomps à la Lohengrin im ersten und dritten Akt niemals das Orchester übertönten.

Fazit

Diese Oper gehört mit ihren zahlreichen Bildwechseln und spektakulären visuellen Effekten in die gleiche Kategorie wie Massenets Esclarmonde. Beide Opern verlangen große Stimmen, viel Aktion der Bühnenmaschinerie und ein akkurat spielendes stark besetztes Orchester. Die Handlung dieser Werke vermag das heutige Publikum vielleicht nicht mehr zu überzeugen, aber die Musik Reyers ist eine wirkliche Entdeckung. In Marseille wird großartig musiziert; das Orchester und die Sänger der Hauptpartien lassen den Abend zu einem Erlebnis werden. Die Bravorufe am Ende waren wirklich verdient. Hinzu kommt ein schönes Bühnenbild mit geschickt eingesetzten Videoprojektionen. Die phantastische Handlung wird szenisch geradlinig umgesetzt. Hinzu kommt das im Stile des Art déco gehaltene Haus, das allein schon einen Besuch wert ist. Einziger Kritikpunkt ist der recht späte Beginn der Aufführung um 20 Uhr: Der letzte Vorhang fällt dann erst eine knappe halbe Stunde vor Mitternacht.

Dr. Martin Knust

Bild: Christian DRESSE

Das Bild zeigt: Catherine Hunold (Brunehild) re., Charlotte Bonnet (Hilda) li.

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