Essen, Aalto Theater – LULU

Musik und Text von Alban Berg (1885-1935), nach Frank Wedekind, Oper in zwei Akten
UA: 2. Juni 1937, Zürich
Regie: Dietrich Hilsdorf, Bühnenbild: Johannes Leiacker, Kostüme: Renate Schmitzer
Dirigent: Stefan Soltesz, Essener Philharmoniker
Solisten: Julia Bauer (Lulu), Heiko Trinsinger (Dr. Schön), Thomas Piffka (Alwa), Günter Kiefer (Schigolch), Bea Robein (Gräfin Geschwitz), Andreas Hermann (Maler), Almas Svilpa (Tierbändiger/Athlet Rodrigo) u.a.
Besuchte Aufführung: 23. Januar 2010 (Premiere)

Kurzinhalt
essen-lulu.jpgDer Journalist Dr. Schön hat vor Jahren die kindlich-verführerische Lulu von der Straße aufgelesen und ist ihr seitdem rettungslos verfallen. Um sich von ihr zu lösen, verkuppelt er sie immer wieder an andere Männer. Ohne Erfolg: Lulus ersten Gatten, den Medizinalrat, trifft der Schlag, der zweite, ein Maler, schneidet sich die Kehle durch. Resigniert läßt Dr. Schön sich erneut mit Lulu ein und heiratet sie. Zur Katastrophe kommt es, als Dr. Schön in der gemeinsamen Wohnung gleich eine ganze Reihe von Nebenbuhlern antrifft, darunter die lesbische Gräfin Geschwitz und seinen Sohn Alwa. Lulu erschießt Dr. Schön und kommt ins Gefängnis. Mit Hilfe der Gräfin, des Athleten Rodrigo und des zwielichtigen Landstreichers Schigolch kann Alwa sie befreien. Wie Dr. Schön verfällt Alwa ihr mit Haut und Haar. In dem von Berg nicht mehr vollständig vertonten dritten Akt wird Lulu zur Prostituierten und schließlich von Jack the Ripper ermordet.
Aufführung
Die Ausstattung führt uns mitten in das Intellektuellen- und Künstlermilieu einer modernen Stadt. Die Bühne stellt ein kühles, elegantes Loft dar, das mit Mobiliar, Requisiten und mondänen Kostümen der jeweiligen Szenerie angepaßt wird. Im Hintergrund sind nach dem Selbstmord des Malers überlebensgroß und blutüberströmt seine Gemälde von Lulu zu sehen. Zu den Orchesterzwischenspielen werden Filme auf den Vorhang projiziert, die genau da einsetzen, wo die Handlung zuvor aufgehört hat. Auch die Umbauten sind minutiös in den Filmen zu sehen. An die Stelle des von Berg nur skizzenhaft hinterlassenen dritten Aktes tritt seine Lulu-Orchestersuite, die Handlung wird pantomimisch fortgesetzt. Lulu fällt nicht Jack the Ripper zum Opfer, sondern Alwa, der ihr – als Reminiszenz an den Maler – die Kehle durchschneidet. Wehklagend sinkt die Gräfin Geschwitz über der Leiche zusammen.
Sänger und Orchester
Alban Berg gehört zur Neuen Wiener Schule, einem Komponistenkreis, in den auch Arnold Schönberg und seine Zwölftonmusik einzuordnen sind. Mit Lulu orientiert sich Berg zwar an Schönberg, schafft aber kein durchweg zwölftöniges Werk. Vielmehr sind auch Einflüsse der Spätromantik (Mahler) oder von Bergs eigener Oper Wozzek hörbar, in der er die Grenzen der tonalen Musik außer Kraft setzte, ohne ein neues System an ihre Stelle treten zu lassen.
In die nicht einfache Lulu-Partitur stürzen sich Stefan Soltesz und seine Essener Philharmoniker mit Verve. Sie schaffen eine mitreißende und leidenschaftliche Atmosphäre, der man sich kaum entziehen kann. Dabei steht ihnen ein großartiges Ensemble zur Verfügung, an der Spitze Julia Bauer (Lulu). Ihr leichter, mädchenhafter Sopran setzt auf auch in extremer Höhe glasklare, fast ätherische Spitzentöne, die man selten so perfekt gehört hat. Bauer spielt Bergs Antiheldin als eine Mischung aus trotzigem Balg und naiver Blondine, läßt aber gelegentlich durchblicken, daß Lulu die Situation durchaus unter Kontrolle hat. Heiko Trinsinger (Dr. Schön), auf dem besten Weg zum Heldenbariton, wartet bei aller dramatischen Wucht mit nobler Stimmführung und deklamatorischer Klarheit auf. In Bestform präsentiert sich auch der Tenor Thomas Piffka (Alwa): Seine nahezu am Fließband geforderten hohen Töne bewältigt er kraftvoll und mühelos aus dem Brustregister heraus. Günter Kiefer (Schigolch) stellt nicht, wie bei dieser Rolle üblich, einen Tattergreis dar, sondern zeigt mit saftigem, rabenschwarzem Baß den gefährlichen Charakter der Figur. Bea Robein (Gräfin Geschwitz) und Andreas Hermann (Maler) empfehlen sich in ihren kurzen, aber anspruchsvollen Rollen mit Nachdruck. Ideal besetzt ist auch der grobschlächtig singende und spielende Almas Svilpa (Tierbändiger/Rodrigo).
Fazit
Zu Recht wird die Aufführung frenetisch bejubelt. Zur der überragenden musikalischen Leistung paßt die unterhaltsame, ästhetisch anspruchsvolle Inszenierung von Dietrich Hilsdorf, der nicht nur für die Tragik der Handlung ein Gespür hat, sondern auch für ihre bizarren, an moderne Boulevardkomödien erinnernden Elemente. Dabei überrascht die Regie den Zuschauer immer wieder, von den filmischen Zwischenspielen bis hin zum unkonventionell dargebotenen Schlußapplaus. Diese Produktion, eine der besten des Aalto Theaters in den letzten Jahren, ist auf jeden Fall einen Besuch wert!

Dr. Eva-Maria Ernst

Bild: Thilo Beu
Das Bild zeigt: Vor der Katastrophe: Almas Svilpa (Ein Tierbändiger / Athlet), Heiko Trinsinger (Dr. Schön, Chefredakteur) und Julia Bauer (Lulu), v. l. n. r.

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